Dankbar ließ sich Manuel in den Sand fallen und trug das kühle Gel auf seinen angeschwollenen Knöchel auf. Anschließend zog ihm Roman einen Stützverband darüber.
"So, probier jetzt aufzustehen. Du wirst sehen, du hast nur mehr ganz leichte Schmerzen."
Und tatsächlich. Roman hatte Recht. Schließlich musste er ja jetzt die Leiter hochklettern. Ob er das schaffte? Vorsichtig probierte er die ersten paar Stufen. Ja, es funktionierte. Sein erstes großes Abenteuer konnte beginnen. Ganz langsam hangelte er sich nun hoch, bis er die Stahltüre erreichte. Als er sie öffnete, empfing ihn eine Plattform. Vorne gab es einen Aufzug und rechts führte ein Holzrutsche in eine unbekannte Tiefe.
"Roman, wie geht es jetzt weiter? Aufzug oder Rutsche?"
"Das lass ich dir über. Du kannst es dir aussuchen."
Okay, dann Rutsche. Er wollte ja schließlich was erleben. Eigenartig war nur, dass immer stets ein paar Meter vor ihm der Raum in Licht getaucht war. Ansonsten herrschte komplette Dunkelheit. Der letzte Teil ging in eine linke Kurve und dann befand er sich in ebenem Gelände. Aber wo war Roman?. Ah ja, da tauchte er gerade in seinem eigenem Lichtkegel auf. Er hatte es vorgezogen, den Aufzug zu benutzen.
"So, Manuel, du siehst hier vor uns drei Gänge. Der Mittlere ist für uns reserviert. Links wirst du immer wieder Halbkugeln entdecken, die zusammengeklebt eine ganze ergeben. Und rechts werden nur ganze Kugeln rollen."
"Okay, und was hat das zu bedeuten?"
"Das darf ich dir jetzt noch nicht sagen. Das wirst du später erfahren. Folge mir einfach!"
Seine Neugierde war zwar erwacht, aber irgendwie hatte er sich sein Abenteuer anders vorgestellt. Langweilige Kugeln, die mit allen möglichen Materialien zusammengeklebt waren. Angefangen von farblosen bis farbenprächtigen Tixostreifen, Paketklebeband und Maler-Abdeckband bis hin zu Metallklammern war alles vertreten. Sie bewegten sich nur sehr langsam vorwärts, da die Klebematerialen meist nicht sehr gut hielten. Er bemerkte immer wieder, wie zwei Halbkugeln auseinander brachen und sich anschließend lange und oft auch immer wieder vergeblich bemühten einen haltbaren Kleber zu finden. Offenbar war es ja ihre Aufgabe, sich auf diesem Weg weiter zu bewegen. Aber das ging eben nur als ganze Kugel. Er bekam direkt Mitleid mit diesen Halbkugeln, die immer wieder Anläufe nahmen, um endlich wieder eine komplette Einheit zu sein. Manchmal brauchten sie
auch die Hilfe des Vorder- und Hintermannes, um endlich wieder ein Stück rollen zu können, was schließlich auch ihre Bestimmung war.
Ganz anders dagegen die rechte Seite. Hier gab es zwar nicht so viel Verkehr wie auf der linken, dafür hatte er aber den Eindruck, dass sie sich graziös fortbewegten. Und sie strahlten irgendwie eine Freiheit und Unabhängigkeit aus, sofern man das von einer Kugel sagen konnte. Aber vielleicht verbarg sich dahinter ja ganz etwas anders.
Der Weg führte in einer Schneckenlinie immer mehr in das Innere, bis er schließlich in einem großen Rundeau mündete. Zentral beherrschte eine Riesenkugel den Raum. Überall kamen Rohre heraus, an deren Enden sich wieder kleinere Kugeln befanden. Die große ruhte auf fünf kleineren. Von dem ganzen Gebilde ging ein eigenartiges, Leuchten aus. Manuel war total fasziniert. Was war das bloß? So etwas hatte er noch nie gesehen. Aber er traute sich auch nicht zu fragen. Von diesem Wesen ging so viel Majestätisches, Überirdisches, Vollkommenes aus. Aber noch ehe er zum Nachdenken kam, veränderte das geheimnisvolle Etwas seine Gestalt. Ganz langsam verschwanden die Rohre und die kleinen Kugeln in dem großen Gebilde. Das neue Riesengeheimnis rollte allmählich auf Manuel zu und sandte gleichzeitig weiße und violette Lichttropfen aus, so als sollte es ein Willkommens-Gruß sein.
"Hallo Manuel, ich habe dich schon erwartet. Wir werden dir jetzt eine Performance bieten, die du dein ganzes Leben nicht vergessen wirst. Und wenn die Zeit reif ist, und du den Sinn dahinter verstanden hast, hast du den Schlüssel für ein erfülltes Leben gefunden."Kaum waren die letzten Worte verklungen, wurde es komplett dunkel. Zu Beginn zuckten Sternspritzer da und dort auf und verglühten gleich wieder. Das in schwaches violettes Licht getauchte Geheimnis fuhr seine "Füße" und "Hände" wieder aus und damit setzte auch eine Sphärenmusik ein. Das war auch der Beginn der übrigen Darsteller. Wie auf ein unhörbares Kommando strömten alle vollständigen schwarzen Kugeln herein und bildeten einen Kreis rund um das Lichtwesen. Die, die sich nahe der Fußkugeln befanden, wurden ebenfalls teilweise in violettes Licht getaucht, die anderen jedoch blieben schwarz. Und nun begann ein scheinbares Gerangel unter den dunklen, um auch etwas von der Helligkeit abzubekommen. Mit einem Mal sandte der „Atomium“ ähnliche Mittelpunkt Lichtblitze in allen Regenbogenfarben aus, so als ob dieser Streit immer mehr Farbe und Helligkeit hervorlocken würde. Dann begann ein eigenartiger Tanz der Schwarzen, die sich wie von einem Magnet angezogen um die scharten, die etwas violettes Licht behalten konnten. Und so bekamen immer mehr schwarze zumindest violette Flecken. Die Lila-Angesteckten bemühten sich daraufhin soviel Nähe wie möglich zum Mittelpunkt zu bekommen, indem sie um die violetten Kugelfüße regelrecht Tänze aufführten. Und dann kamen auch die Halb-Kugeln ins Spiel. Sie bildeten einen großen Halbkreis um die Szenerie. Anfangs sah es ja noch recht lustig aus, wenn sie von einem Rand zum anderen schaukelten, aber dann erinnerten sie immer mehr an Käfern, die auf den Rücken gefallen sind, und aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kamen. Aber nun passierte etwas Unerwartetes. Immer mehr von den Schauklern fingen an, die glatte Fläche von innen her aufzufüllen. Diejenigen, die es halboval wie einen Rugby aufgeblasen hatten, schafften es schon, ein bisschen zu rollen. Anfangs noch ein wenig unrund, aber nach und nach immer besser, bis sie mit den normalen vollen Kugeln mithalten konnten. Manuel hatte den Eindruck, dass sie richtig glücklich darüber waren. Aber konnten Kugeln denn Gefühle haben? Vielleicht waren es nur verzauberte Lebewesen oder am Ende gar Menschen? Diejenigen, die erst später zur vollen Kugel wurden, stupsten ihre ehemalige zweite Hälfte immer wieder an, so als wollten sie Hilfestellung geben. Und wenn es dann so weit war, vollführten sie einen wahren Freudentanz. Sie klackten zusammen wie zwei Magnete, rissen sich wieder auseinander und veranstalteten zwischen den vielen Säulen Versteck- und Fangspiele. Manchmal passierte es auch, dass die ehemaligen Hälften zu einer einzigen doppelt großen Kugel verschmolzen. Wenn sie sich dann trennten, bekamen sie wieder die ursprüngliche Größe. Begegnungen mit violett eingefärbten hatten positive Auswirkungen auf die Benachteiligten. Sie bekamen auch etwas von dieser hübschen Farbe ab.
Zum Abschluss dieser Vorstellung passierte nun etwas Unerwartetes. Mit einem Mal hatte Manuel das Gefühl, dass alle Mitwirkenden so leicht wie Luftballone wurden. Jeder hatte plötzlich eine andere Farbe bekommen und sie vollführen einen Lufttanz nach genau einstudierter Choreographie. Die Musik wurde allmählich leiser, die Tanzenden bewegten sich immer mehr Richtung Boden, die schillernden Farben wurden blasser, bis nur noch schwarz übrig blieb. Die Lichtblitze vom Mittelpunkt wurden immer seltener, bis schließlich der ganze Raum in vollständige Dunkelheit gehüllt war.
Manuel verspürte wieder diesen eigenartigen Sog und ehe noch Angst aufkommen konnte, befand er sich wieder in seiner Gefängniszelle. Er starrte auf sein Puzzle-Bild und war sich nicht sicher, ob er das nicht alles geträumt hatte. Vielleicht war er ja vor Erschöpfung
eingeschlafen. Aber da erinnerte er sich, beim Sprung vom Kamel hatte er sich ja den Knöchel verstaucht. Er schaute sich seinen rechten Fuß an und da war sie noch, die Bandage, die ihm Roman angelegt hatte. Also konnte es kein Traum gewesen sein. Eigentlich hatte er
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