Und jetzt muss ich dich leider verlassen, ich habe ja auch noch andere Leute zu betreuen."
"Ja, natürlich, also dann tschüss Klaus, bis zu nächsten Mal!"
Noch nie in seinem kurzem Leben hatte Manuel erlebt, dass ihm ein Mensch soviel positive Energie geben konnte.
Mit Feuereifer machte er sich wieder ans Puzzeln. Diesmal ging es darum, sämtliche Randstücke herauszufiltern. Also alle Teile, die nur auf einer Seite weder eine Ein- noch Ausbuchtung hatten. Diesmal türmte sich schon ein kleines Häufchen vor ihm auf. Wie sollte er da bloß den Anschluss an die vier Ecken finden? Er betrachtete den Chaos-Berg und dann seinen Puzzle-Beginn. Erst jetzt fiel ihm auf, dass jedes Anfangs-Teilchen eine andere Farbschattierung hatte. Das hieß also, er konnte den großen Berg in kleinere unterteilen, was die Suche natürlich gleich einfacher machte. Er unterteilte zuerst in einen blauen und orangen für die Himmel-Anteile und einen braunen für die Bodenanteile. Und innerhalb dieser Farbkategorien gab es hellere und dunklere Schattierungen. Und so waren aus einen großen Chaos-Berg sechs überschaubare Häufchen geworden.
Aber war es mit den Herausforderungen und Problemen, die jeder Mensch zu meistern hatte, nicht ähnlich? Wenn man mehrere Bau-stellen als ein einziges unüberschaubares Konglomerat wahrnimmt, dann kann schon mal Panik ausbrechen. Wie es ja auch bei ihm der Fall war. Aber, was wäre gewesen, wenn er seine anfangs ja nur unangenehmen Situationen in drei überschaubare Gruppen geteilt hätte? Und zwar in Eltern, Schule und Tante. Bei der Schule fiel ihm schon eine andere Lösung ein. Er hätte zum Schuldirektor gehen können. Wenn das ergebnislos verlaufen wäre, gab es dann auch noch den Schulpsychologen oder Schul-Sozialarbeiter. Und eventuell hätten diese auch bei den Eltern und bei der Tante helfen können. Vielleicht wären dann die Morde sogar zu verhindern gewesen? Unangenehmen Zeitgenossen wird er auch in Zukunft immer wieder begegnen. Und von daher war es keine Lösung, weitere Morde zu begehen, noch dazu, wo er dann seiner lebenslängliche Haft sicher nicht mehr entgehen konnte. Obwohl er persönlich eigentlich nichts dagegen hätte, die ganze Welt auszurotten. Okay, vielleicht wäre es doch nicht so eine gute Idee. Weil dann wäre er ja allein, was nicht unbedingt erstrebenswert ist. Aber Spaß beiseite, er hatte den Eindruck, es gab wohl mehr Menschen mit primitiver Geisteshaltung, als solche, die sich und andere in der Entwicklung fördern.
Jetzt hatte sich auch der Gefängnis-Alltag bei ihm eingespielt. Vormittag hieß es die Schulbank drücken, dann gab es Mittagessen, dann ging es für gewöhnlich zum Hofgang, um nicht komplett zu vereinsamen. Aber so toll empfand er es dann auch wieder nicht. Die lieben Mithäftlinge waren ja allesamt ururalt. Was sollte er schon mit diesen Oldies anfangen? Umgekehrt war es offenbar auch das selbe. Keiner von diesen Gruftis versuchte auch nur annähernd mit ihm in Kontakt zu kommen. Was er so von den anderen mitbekam, ging es hier hauptsächlich um einen Erfahrungsaustausch über Einbrüche oder wie man besser Geldbörsen oder andere lukrative Sachen klauen konnte. Also nicht unbedingt Themen, die ihn positiv weiter gebracht hätten. Aber zumindest machte ihn die "frische" Luft und die Bewegung wieder fitter für die Hausaufgaben. Und immer öfter fragte er sich, warum er sich mit Sachen herumquälen musste, die er wahrscheinlich nie in seinem Leben gebrauchen würde. Aber seine Lehrer sagten jedes Mal, dass er noch zu jung wäre, um das beurteilen zu können. Und was war, wenn sie nicht Recht hatten? Mittlerweile hatte er ja schon genügend Erfahrung mit nervigen und unfähigen Erwachsenen gesammelt. Okay, seine grauen Gehirnzellen wurden in Schwung gehalten. Aber wenn das größtenteils sinnloses Zeug war, wurde damit nicht nur unnötig Hirn-Kapazität belegt, die anderweitig besser ausgenutzt werden könnte, sondern es wurde auch wertvolle Lebenszeit vergeudet. Ganz zu schweigen davon, was man alles in dieser Zeit hätte machen können. Man könnte mit Leuten zusammen sein, die einem mit positiver Energie aufluden wie z.B. Klaus oder sich mit so interessanten Sachen beschäftigen wie Puzzle-Bilder zusammen-setzen. Jetzt war es war für ihn schwer vorstellbar, dass er das einst als Kinderkram abgetan hatte. Das Bild hatte nun bereits einen Puzzle-Rahmen bekommen. Die Grundlage war damit gelegt. Jetzt ging es an den Innenausbau. Er hatte auch schon gelernt, sich nicht partout auf ein einzelnes Teilchen zu konzentrieren, wenn es sich absolut nicht finden lassen wollte. Wenn er stattdessen eine markante Ein- oder Ausbuchtung suchte, war er meistens relativ schnell fündig geworden.
Konnte man das Prinzip vielleicht auch auf andere Lebens-Situationen anwenden? In einer Wohnung oder einem Haus gab es mehrere Türen. Viele waren offen, aber ein paar verschlossen. Man wollte aber gerade in einen abgesperrten Raum. Man versuchte verschiedene Schlüssel, die aber alle nicht passten. Auch Klopfen und gegen die Tür treten half nicht. Die Lösung war erst das offene Zimmer daneben. Hier gab es eine weitere offene Tür in den Raum, den man ursprünglich betreten wollte. Aber auf direktem Weg hatte man nur unnütz Zeit und Energie verschwendet.
Manuel bekam nun immer mehr Übung. Im Moment kam er auch sehr flott voran. Er hatte nun die zwei Kamele und den bunten Reiter schon fast fertig, als er deutlich eine Stimme hörte:
"Na, junger Mann, hast du nicht Lust, dir die Pyramide von innen anzuschauen?"
Nanu, hatte der schon Halluzinationen oder hatte der Reiter tatsächlich zu ihm gesprochen? Ja, natürlich will ich, aber mir fehlt das Geld für eine Reise dorthin, dachte er. Aber das genügte schon. Er hatte das Gefühl, dass er sich dem Sog eines unsichtbaren Schlauches, der vom Bild seinen Ausgang nahm, nicht entziehen konnte, und im nächsten Moment befand er sich als Reiter auf dem zweiten Kamel. Es war alles wie auf dem Bild. Sogar der eigenartige Planet, nein der Mond war es nicht, dafür war er zu groß, versank in dem kitschigen Orange.
Heißer Wüstenwind umwehte seinen Körper. Offenbar befand er sich in einer anderen Art von Wirklichkeit.
"Herzlich willkommen, Manuel, ich habe dich schon erwartet. Ich bin beauftragt worden, dir das Innere der Pyramide zu zeigen."
"Wieso weißt du meinen Namen und wer bist du eigentlich?"
"Ich habe dich schon lange beobachtet. Du kannst Roman zu mir sagen. Du bist auserwählt worden, etwas Wichtiges für deine Zukunft zu lernen."
Das war jetzt zwar keine erschöpfende Antwort auf seine Frage. Aber er traute sich nicht, weiter nachzubohren. Er hatte seit einiger Zeit ein brennendes Interesse für Pyramiden entwickelt und er hoffte sehr, dass dieser geheimnisvolle Fremde ihn nicht enttäuschte.
Voller Angst klammerte er sich an den vorderen Höcker seines Kamels, da er ja noch nie auf einem so großen Tier geritten ist. Aber schon bald passte er sich dem schaukelnden Gang seines Wüsten-Taxis an und begann es, so richtig zu genießen. Als sie die Pyramide erreichten, gab es noch eine Extrarunde entlang den vier Seiten. Erst jetzt merkte er, wie riesig dieses Bauwerk tatsächlich war.Roman machte vor der Stahlrohrleiter halt.
"So, Manuel, wir sind da, du kannst absteigen."
"Und wie, wenn ich fragen darf?"
"Du kannst die sportliche Variante nehmen, indem du runterspringst, oder die gemäßigtere, indem du dich mit Hilfe der beiden Höcker halb hinuntergleiten lässt und dann springst."
Nachdem er ja kein Weichei sein wollte, entschied er sich für die sportliche Variante, was er unmittelbar darauf bereute, da er mit seinem rechten Fuß umknickte. Er konnte zwar auftreten, aber es tat höllisch weh. Roman merkte gleich, was los war und zauberte aus seiner Satteltasche eine Salbe und einen Verband.
"Hier, schmier dich damit ein, dann wird es dir besser gehen!"
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