Er machte eine Pause, und auch Scharfschwert blieb still.
„Aber zurück zu Ihrer Frage. Das „Behandlungsvorranggesetz für den niedergelassenen Bereich von 2020“ sieht eine Vielzahl von Sanktionen für die Abweisung für Patienten durch einen Arzt vor. Je nach Schwere des „Vergehens“ werden Geldstrafen fällig, kann das Budget gekürzt werden, im schlechtesten Fall kann die Approbation entzogen werden. Die Bewertung der Vergehen nimmt eine „Neutrale Schiedsstelle der Einheitskrankenkasse für den Fall von Leistungserbringungsverweigerung im niedergelassenen Bereich“ vor. Der Beschwerdeführer, also der abgewiesene Patient, muss den Fall beschreiben, der Arzt kann seine Sicht auf die Dinge darlegen.“
„Haben Sie schon mal einen Patienten abgewiesen?“
„Da ich noch eine Weile als Arzt arbeiten will, natürlich nicht. Nur über den Buschfunk habe ich gehört, dass für die Vergehen je nach Schwere unterschiedliche Punktzahlen vergeben werden. Welchen „Kontostand“ man hat bleibt unbekannt, es gibt keine Möglichkeit, sich darüber zu informieren.“
„Aber das widersprecht doch unseren rechtsstaatlichen Prinzipien“ wandte Scharfschwert ein.
„Sie leben offensichtlich immer noch auf einem anderen Planeten Herr Scharfschwert, und Ihre Informationen beziehen Sie sicher aus dem „Reformlandfernsehen“. Können Sie sich noch daran erinnern, dass einen die Vielzahl von Fernsehsendern vor ein paar Jahren noch regelrecht genervt hatte? Glücklicherweise hat uns die Regierung davon befreit, ein Sender reicht ja auch dicke aus, um sich umfassend und differenziert informieren zu können. So, wir müssen jetzt mal langsam mal zur Sache kommen, wenn ich die Leute zu lange warten lasse gibt es wieder Tumult im Wartezimmer. Schließlich haben die meisten der Neubürger leider immer nur wenig Zeit, die Gründe dafür zu benennen spare ich mir lieber. Also, im „Behandlungsvorranggesetz von 2020“ ist die Einrichtung einer Clearingstelle vorgesehen, sie soll also bei Streitigkeiten schlichten. Dorthin können Sie sich mit Ihrem Anliegen auf eine unverzügliche Krankenhausbehandlung wegen akuter Verschlechterung der Organfunktion der Nieren wenden, irgendwann werden Sie eine Antwort erhalten. Bedenken Sie aber, dass eine Beschwerde gegen einen Verwaltungsakt einer staatlichen Einrichtung oder den einer Behörde oder regierungsrelevanten Organisation aktenkundig vermerkt wird, also in Ihrer elektronischen Akte eingetragen wird und dort unlöschbar bis zum Sankt Nimmerleinstag verbleibt. Aber das ist Ihre ureigene Entscheidung, schließlich sind Sie ja ein gestandener Mann. Um Ihnen aber jetzt helfen zu können, werde ich Ihnen Tabletten für die Verbesserung der Filterfunktion der Nieren verschreiben. Leider wird da eine Zuzahlung von 125 Neumark für eine 30iger Packung fällig, die Einheitskasse übernimmt nur noch wenige Medikamentenverschreibungen vollständig. Ich muss Sie auch darauf hinweisen, dass die Tabletten erheblich lebertoxisch sind, Sie wissen, was das bedeutet.“
„Herr Doktor“ lächelte Scharfschwert „um meine Leber mache ich mir herzlich wenig Sorgen. Als 2019 auf Druck der muslimischen Verbände das „Erweiterte Präventionsgesetz gegen Suchtgefahren“ beschlossen wurde bin ich komplett weg vom Alkohol. In früheren Zeiten habe ich gern mal ein kühles Bier getrunken, na ja, nicht nur eins, und dazu nach dem Essen noch einen Schnaps, das gehörte einfach dazu. Aber jetzt 15 Neumark für eine Flasche Bier im Laden zu bezahlen, oder 300 Neumark für eine Flasche billigen Fusel, das ist mir doch zu viel. Da in den öffentlichen Einrichtungen wie Gaststätten oder Clubs auch kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden darf, gehe ich dort auch nicht mehr hin. Also wird meine Leber sich vor allem um die Nebenwirkungen der Medikamente kümmern können.“
„Sie sehen das wenigstens mit Humor, Herr Scharfschwert. In 4 Wochen sehe ich Sie zur Kontrolle wieder. Bis dahin alles Gute.“
„Ihnen auch, Herr Doktor.“
Als Klaus Scharfschwert die Praxis durch das Wartezimmer verließ sah er, dass alle Stühle besetzt waren und er erkannte, dass die überwiegende Zahl der wartenden Frauen Kopftücher trug. Etliche junge Männer in schicken Sachen lümmelten sich auf den Stühlen, alle hantierten an ihren Smartphones herum. Zwei schon ältere Frauen standen am Ausgang, aber keiner der anderen Patienten dachte daran, ihnen einen Platz anzubieten. Vermutlich lag es daran, dass sie wie Scharfschwert eine hellere Hautfarbe hatten, und zur perspektivisch immer mehr schrumpfenden Bevölkerungsgruppe der „Schon länger hier Lebenden“ gehörten.
Schorndorf, Baden-Würrtemberg, Juli 2017
Nach dem Straßenfest herrschte am darauffolgenden Vormittag in der gerade einmal 40.000 Einwohner zählenden und sonst recht beschaulichen Stadt gespenstische Stille. Die eigentlich im Regelfall recht belebten und von schön hergerichteten Fachwerkhäusern eingerahmten Innenstadtgassen waren vollkommen verwaist, lediglich einige Reinigungstrupps waren dabei, den überall verstreuten Müll und zum Bruch gegangene Glasteile wegzuräumen. Bei dieser Aktion handelte es sich nicht allein um die typische schwäbische Angewohnheit für gründliche Ordnung zu sorgen, sondern es ging heute auch darum, die in der Nacht vom Samstag zum Sonntag entstandenen Schäden zu beseitigen. Wie immer hatten die Schorndorfer ihr jährliches Straßenfest wieder mit Herzblut und viel Engagement vorbereitet und die seit vielen Jahrzehnten existierenden Vereine hatten wie üblich dabei an der Spitze gestanden. So gesehen war diese Veranstaltung mit einer der kulturellen Höhepunkte des kleinen Ortes im Jahr, und die Vorfreude darauf verständlicherweise groß gewesen. Was den ausgesprochen bodenständigen Menschen in der Stadt immer wichtig gewesen war, war, mit thematisch auf ihre Heimat bezogenen Angeboten an Waren und kulturellen Darbietungen ihre seit Jahrhunderten gewachsenen Traditionen in Erinnerung zu halten und ihren berechtigten Stolz auf ihre Arbeit und deren gut sichtbare Ergebnisse zum Ausdruck zu bringen. Dabei waren die Schorndorfer keine ausschließlich im Denken an die Vergangenheit gefangenen und rückständigen Leute, sondern sehr weltoffene und tolerante Menschen, die sich ihres hohen Wohlstandes durchaus bewusst waren. Sie hatten sich gerade nach dem hohen Zustrom von Migranten in den letzten Jahren nicht hinter den Festungsanlagen des imposanten Burgschlosses abschottet, sondern auch einen Beitrag zur Integration der Zugezogenen leisten wollten. Etliche der Bürger engagierten sich seitdem ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, und mit ihrer im Ländle weitverbreiteten humanistisch und grün orientierten Denkhaltung war es für diese Menschen selbstverständlich, anderen, denen es nicht so gut wie ihnen selbst ging, mit Hilfe zur Seite zu stehen. Zum Straßenfest hatte es noch nie Probleme mit den Besuchern gegeben, lediglich ein paar unter Folklore verbuchte Schlägereien zwischen jungen Burschen waren das einzig Auffällige gewesen. Die Polizeiführung in Aalen bereitete sich also wie jedes Jahr vorher auf eine entspannte Einsatzbereitschaft vor. Schorndorf, an der Bahnstrecke Stuttgart-Aalen gelegen, wurde am Samstag wie aus dem Nichts heraus von einer größeren Zahl von zum Stadtfest strömenden, vor allem jugendlichen Besuchern heimgesucht. Das war von der Sache her nichts Neues, aber diesmal hatte sich die Zusammensetzung der nach und nach eintreffenden Gruppen im Vergleich zu den Vorjahren grundlegend geändert und auch deren Anzahl war außergewöhnlich groß. Schon auf dem Bahnhofsvorplatz war es zu ersten Übergriffen gekommen, 3 afghanische Asylbewerber hatten eine 17jährige sexuell belästigt und den Beamten in den 3 Polizeidienststellen in der Stadt schwante, dass dies erst der Auftakt für weitere Auseinandersetzungen gewesen sein könnte.
Polizeihauptkommissar Gunther Riedel wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Polizei die Lage nicht in den Griff bekommen würde, dazu waren zu viele der vermutlich auf Randale eingestellten Leute in die Stadt gekommen. Erste Lageberichte beschrieben die Ankommenden vorwiegend als Personen mit Migrationshintergrund sowie Schwarzafrikaner. Nicht unerwartet eskalierte die Situation dann schnell, als im Schlosspark in den Abendstunden ungefähr 1.000 deutsche und ausländische Jugendliche aneinandergerieten, die Ausländer waren in der Mehrheit. Auslöser waren wohl Flaschenwürfe gewesen, die die aufgeheizte Stimmung noch mehr anfeuerten. Riedels Einsatzkräfte waren deutlich in der Unterzahl, wurden auch beworfen und mussten sich zurückziehen. Die zwar leichte Reibereien beim Straßenfest gewohnten Polizisten waren von den ihnen entgegenschlagenden Aggressionen entsetzt gewesen und mussten um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Hektisch wurde die übergeordnete Dienststelle um Verstärkung gebeten. Mittlerweile hatte sich die Menge aufgelöst aber es war keineswegs Ruhe eingetreten. Gruppen von bis zu 50 Personen zogen laut skandierend durch die Stadt, etliche der Leute zeigten demonstrativ ihre Stichwaffen, dann wurden Schreckschusswaffen abgefeuert. Die verängstigten Anwohner hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, und für eine ganze Weile gehörte die Stadt den Migranten, von der staatlichen Ordnungsmacht war weit und breit nichts zu sehen. Erst als die Polizei auf diese Vorfälle aufmerksam gemacht wurde versuchte sie einzugreifen, aber die Randalierer waren verschwunden. Gegen 4 Uhr morgens saß Polizeihauptkommissar Gunther Riedel mit ausdruckslosem Gesicht mit seinen Einsatzgruppenleitern zusammen, um die Vorfälle auszuwerten.
Читать дальше