Der Raum war eng und lang. Die Wände hatte man in einfaches Weiß getaucht. An der rechten Wand befand sich ein dreistöckiges Bettgestell. Am Fenster gab es einen kleinen Tisch mit drei Stühlen. Davor, den Betten quasi gegenüber, ein gebrauchter alter Holzschrank. Weil dessen Türen offen standen, sah man, er diente als Kleiderschrank. In seine Querseite hatte man Nägel geschlagen, an denen Kleidungsstücke, Taschen und andere, meist weibliche Utensilien hingen. Das Gleiche galt auch für die Wände neben dem Schrank. In den vier Raumecken oder wo sonst noch Platz war, hatte man all das angehäuft, was anderswo nicht aufbewahrt werden konnte. Aber es gab dort auch Lebensmittel und Küchengeräte. Hier hatte jemand gesammelt, was er finden konnte.
Das erste, was Mikael auffiel, waren die vielen Personen, die sich in dem schlauchförmigen Raum aufhielten. Alle trugen Spurensicherungsanzüge. Aber nicht alle waren von der Kriminaltechnik. Man nahm Fingerabdrücke, tütete ver-dächtige Gegenstände in Plastikbeutel oder klebte Oberflächen ab. Eine Vermummte stürzte sich auf ihn: Rita Minkoleit von der Spurensicherung.
„Mensch Knoop, Sie beschädigen all unsere Spuren. Und das bei so einer Müllhalde.“ Sie griff nach einem Kunststoffanzug. „Marsch rein mit ihnen.“
Knoop hasste diese Spurensicherungsbekleidung. Sie war atmungsinaktiv. Nach einer Stunde Tragen schwitzte man wie in einer Sauna.
Eine Frau, mit dem Rücken zu ihm, hielt einen Gegenstand mit spitzen Fingern hoch, um das Teil in die bereitgehaltene Plastiktüte fallen zu lassen. Als sie sich umdrehte, erkannte er Ingrid Höfftner.
„Ach, der Herr Knoop! Auch schon da?“ Die Stimme klang unverhohlen ironisch.
Höfftner war Hauptkommissarin so wie er. Ihre Art, sich zur Schau stellen, was bekannt. Höfftner reichte ihm bis zur Schulter und füllte den ganzen Spurensicherungsanzug aus. Ihr Busen und ihr Becken waren sprichwörtlich. In dem Spurensicherungsanzug erinnerte ihn die Frau an einen riesigen Schneemann, den er als Kind immer gebaut hatte. Ihre breiten Lippen gaben ihrem Aussehen einen gewöhnlichen Ausdruck. Aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Ingrid war gewitzt und feinfühlig.
Mikael schluckte und schluckte dabei die Erwiderung mit runter, seit wann es denn Anzüge in Größe S gebe. „Kannst du mich auf den Stand der Dinge bringen, Ingrid? Wo ist das Bett der Toten?“
Höfftner zeigte nach oben. Sie beherrschte sich, ihr Gesicht zu verziehen. Sie kannte diesen Knoop von einigen MKs. Aber dies lag schon lange zurück. In letzter Zeit waren sie sich manchmal irgendwo auf den weitläufigen Fluren des Polizeipräsidiums begegnet, hatten knapp 'Tag' gesagt. Sie mochte ihn wohl immer noch nicht. Dabei konnte sie nicht sagen, warum. War es sein Wesen, seine Einstellung, die Bemerkungen, die er machte? Und nun mussten sie zusammenarbeiten! Ihre Unbehaglichkeit stellte sie unverholen zur Schau. In ihrer Gefühlaufwallung hätte sie bald seine nächste Frage nicht verstanden.
„Warst du bei der Sektion der Leiche dabei?“
Sie nickte mit dem Kopf. „Ja, heute in der Früh. Wir wissen inzwischen, die Frau hieß Nomfunda Mafalele. Sie war 39 Jahre alt. Kenianerin. Sie...
„Kenianerin?“, unterbrach Knoop sie. „Das heißt, sie ist...“
„...eine Dunkelhäutige. Richtig!“ Sie unterbrach Knoop genauso, wie sie selbst unterbrochen worden war. „Sie hatte Asyl beantragt und wartete auf den Bescheid.“
„Asylbewerberin, ach so.“ Knoops Gesicht war nicht zu entnehmen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte.
Unbeirrt sprach Höfftner weiter. „Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. So.“ Sie machte mit der Hand eine Bewegung, um den Vorgang nicht beschreiben zu müssen. „Der Fundort ist wohl nicht der Tatort. Wir kennen ihn noch nicht. Man hat den Körper getragen. Aber die Sache ist noch nicht endgültig geklärt. Warst du schon draußen?“ Sie machte eine Pause.
Knoop nickte. „Wer hat sie gefunden?“
Höfftner schaute ihn ungehalten an. Sie liebte es wohl nicht, unterbrochen zu werden. „Es war ein Spaziergänger. Genauer gesagt sein Hund, ein Retriever, glaube ich. Der kam plötzlich mit einem Unterarm der Toten an. Der Hundebesitzer muss kurz vor einem Herzinfarkt gestanden haben. Offensichtlich hat er mit der Tat nichts zu tun. Laurenzo hat ihn vernommen.“
„Ach, Carlos ist auch hier? Das ist aber schön. Hat er ein Telefon, das wir abhören können?“
„Laurenzo?“ Höfftner quittierte mit einem Lächeln Knoops ungenaue Frage.
„Nein, der Hundebesitzer.“
„Frag Laurenzo.“ Sie zeigte auf einen Mann, der am Boden kniete und in einem Holzkasten wühlte. „Laurenzo, kommst du mal? Wir haben Besuch für dich.“
Laurenzo erhob sich, dabei murmelte er etwas, weil er sich in der Arbeit gestört fühlte. Als er Knoop erkannte, glitt ein Lächeln über seine Züge. Carlos Laurenzo war Kriminalkommissaranwärter. Krause, schwarze Haare rahmten sein rundes Gesicht ein. Sein fetter, massiger Körper verriet seine Abneigung zu aktivem Sport. So stöhnte er dann auch, als er sich überschnell aufrichtete und auf Knoop zustürmte. Er war etwas kleiner als Mikael. Die beiden umarmten sich.
„Hallo Mickey, wie geht’s? Ich dachte, du bist auf deinem Sportwochenende.“
Knoop winkte ab. „Man hat mich dienstverpflichtet.“
„Mickey?“ Ingrid Höfftner mischte sich in die Unterhaltung der beiden Männer ein. „Ist mir neu, wie man dich so ruft. Übrigens, Laurenzo hat inzwischen die beiden Mitbewohner des Zimmers und die Nachbarn einvernommen. Aber sag mal: Woher kennt ihr euch so gut - so als Bruder unter Brüdern?“
Laurenzos Gesicht verfärbte sich. Er blähte die Backen aus und wollte lospoltern. Knoops abwertende Handbewegung ließ ihn aber verstummen.
„Lass!“, beruhigte er seinen Kollegen.
Carlos atmete tief durch. „Ich bin noch nicht durch. Ich habe nur mit denjenigen gesprochen, die Deutsch konnten. Das waren nicht viele. Das Bild ist ziemlich uneinheitlich. Fest steht, die Tote soll 'plemplem' sein. Hatte Geisterbesuche oder Ähnliches. Sie sprach auch mit ihnen. Hokus Pokus, du verstehst?“ Er machte wischende Handbewegungen vor seinem Kopf. „Das ist die Aussage verschiedener Personen.“
„Ich nehme an, dies hier ist nicht der Tatort?“ Mikael wiederholte die Handbewegung von Höfftner.
Carlos nickte. „Wie, du weißt?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner Kollegin.
„Und das Alibi der anderen Zimmerbewohner?“
Laurenzo schüttelte den Kopf. „Das wird schwierig. Sie haben etwas gegen Polizei, haben leider keine Uhr, wenn sie mich denn überhaupt verstehen. Sie sind alle hier im Gebäude gewesen. Mehrere haben die beiden Zimmergenossinnen zur Tatzeit gesehen. Auch andere Heimbewohner bestätigen dies. Man hat da draußen vor der Türe gequatscht und gealbert. Das sagen unabhängig von einander mehrere Zeugen.“ Laurenzo warf einen Blick in seine Aufzeichnungen. „Die Zimmernachbarin aus diesem Raum hat sogar behauptet, Mafalele habe ihren nahen Tod vorausgesagt. Einer Spur müssen wir noch nachgehen. Ein Bewohner aus der unteren Etage hat behauptet, die Tote gehöre zum horizontalen Gewerbe. Es ist aber bisher nur eine singuläre Aussage.“
„Prostituierte?“, staunte Knoop.
„Weiß ich noch nicht. Kann sein, kann aber auch Eifersucht sein. Der Zeuge hat nach anderen Aussagen die Tote gemocht. Wir müssen hier noch weiter...“
„Meine Herrn Kollegen. Könnte der Freier vielleicht Benjamin Schnittler sein?“ Ingrid Höfftner wedelte mit einer Ansichtskarte.
In der Tat hatte ein Benjamin Schnittler Urlaubsgrüße aus Borkum an die Tote geschickt. Nach wenigen Minuten wussten die drei Kommissare, dass es eine Person solchen Namens gab und dass diese in Schermbeck wohnte.
„Wenn wir hier fertig sind, dann werden wir ihn besuchen.“ Höfftners Ironie wechselte zu einem dienstlichen Sprachgebrauch.
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