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Zu viert hatten sie sich in den Mini gezwängt: Katharina, Polanski, Frauke Müller-Burkhardt und Theresa Ludwig. Katharina steuerte den Wagen durch den Frankfurter Freitagmittagsverkehr zu Lauras Kindergarten. Sie war froh über jede rote Ampel, jeden kleinen Stau – über alles, was den Moment hinauszögerte, in dem sie Laura beibringen musste, dass ihre Mutter gestorben war.
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Elfie LaSalle empfing sie schon am Eingang der heruntergekommenen Altbauvilla. »Leise!«, flüsterte sie streng. »Mittagsschlaf.«
Polanski erklärte ihr, warum sie gekommen waren. Dann bat er die blass gewordene Kindergärtnerin, Laura zu holen. Elfie LaSalle führte sie zunächst in ein großes Spielzimmer. Dann verschwand sie.
Kurze Zeit später erschien sie mit Laura an der Hand, die sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Das Mädchen sah Katharina und stockte: »Mit Mama ist was passiert, oder?«
Polanski hockte sich vor sie hin: »Hallo Laura, ich bin Paul. Katharinas Chef.«
Sanft nahm er die kleine Hand des Mädchens in seine große Pranke und ging mit ihr zu einer Ecke des Zimmers, in der lauter große Kissen lagen. Dort setzte er sich mit ihr auf den Fußboden und begann, leise mit ihr zu sprechen.
Katharina war ihrem Chef unendlich dankbar. Doch Polanski würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Sie hatte erlebt, wie hart er Verdächtige anpackte. Mehr als einmal hatten sich von ihm Verhörte aus purer Angst in die Hosen gemacht. Es ging sogar das Gerücht, dass er in jüngeren Tagen auch das eine oder andere Mal zugeschlagen habe.
Und dann gab es diese andere Seite: Jederzeit war er bereit, seine Familie – die ihm unterstellten Beamten – zu unterstützen oder sich um die Opfer zu kümmern.
Polanski half Laura aufzustehen. Sie umklammerte seine Hand mit aller Kraft. Katharina konnte die weißen Druckstellen unter ihren Fingern sehen, als die beiden zu den Wartenden herüberkamen.
Laura ließ die Hand des Kriminaldirektors los und blieb vor Katharina stehen. Sie sah sie mit großen Augen an, ihre Haut war blass, fast grau. Katharina ging in die Knie und nahm das kleine Mädchen fest in den Arm.
Theresa Ludwig, die Jugendamtsmitarbeiterin, sprach als Erste wieder: »Tja, jetzt müssen wir uns wohl um den Verbleib des Kindes kümmern. Gibt es Angehörige in der Nähe?« Ihr Ton war kühl, geschäftsmäßig.
Elfie LaSalle antwortete: »Die Großeltern wohnen in Spanien, leider. Und ich habe zwar den Auftragsdienst des Vaters erreicht, aber die meinten, es kann ein paar Tage dauern, bis er sich meldet.«
»Dann muss die Kleine wohl in ein Heim.« Theresa Ludwig begann, in ihrer Handtasche zu kramen.
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Polanski. »Eine Pflegefamilie? Das Kind muss doch gut betreut werden.«
»So kurz vor dem Wochenende? Wie soll ich das denn organisieren?«
»Typisch Jugendamt«, murmelte Elfie LaSalle.
»Wie bitte?« fragte Theresa Ludwig giftig.
»Ich sagte: ›Typisch Jugendamt‹.« Elfie LaSalle baute sich vor Theresa Ludwig auf. »Nie in der Lage, rechtzeitig zu handeln, wenn es gebraucht wird. Aber ein Riesentheater um einen schwulen Vater machen.«
Polanski hob beschwichtigend die Hände: »Aber meine Damen!«
Doch Theresa Ludwig und Elfie LaSalle waren fest entschlossen, das jetzt und hier auszutragen.
»Solch eine Beurteilung übersteigt doch wohl Ihre Kompetenzen.« – »Immerhin habe ich tatsächlich Erfahrung im Umgang mit Kindern. Im Gegensatz zu Ihnen.«
Wo Elfie recht hatte, hatte sie recht, dachte Katharina. Es war wirklich nicht sehr taktvoll, vor einem Kind, das gerade seine Mutter verloren hatte, auszudiskutieren, wohin man es abschob. Sie stand auf: »Können wir jetzt wieder an Laura denken?«
»Halten Sie sich da raus! Das geht Sie nichts an«, fauchte Theresa Ludwig.
»Laura geht mich sehr wohl etwas an! Und ich will, dass sie gut untergebracht wird!« Katharina sprach leise. Doch ihr Ton ließ die beiden Frauen erschrocken einen Schritt zurück machen. Auch Polanski spannte seine Muskeln an.
Katharina spürte ein Zupfen an ihrer Jacke. Laura sah zu ihr hoch: »Kann ich nicht bei dir bleiben?«
Mit einem Schlag war Katharinas Zorn verraucht. Sie ging wieder in die Hocke, um mit dem Kind von Angesicht zu Angesicht zu reden: »Aber das geht doch nicht, Laura. Ich muss doch –«
»Warum eigentlich nicht?«, mischte sich Polanski ein. »Wäre das möglich?«, fragte er Theresa Ludwig. »Frau Klein ist eine meiner fähigsten Beamtinnen. Sie ist momentan … beurlaubt und hätte Zeit, sich um Laura zu kümmern. Außerdem ist sie eine Nachbarin. So wäre Laura in ihrer gewohnten Umgebung.«
Was machte Polanski da? Er konnte doch nicht einfach …
Theresa Ludwig musterte Katharina streng: »Das ist zwar ungewöhnlich, aber möglich ist das schon. Frau Klein? Sind Sie verheiratet?«
»Nein, warum?«
»Ich muss doch wissen, ob Sie in geordneten Verhältnissen leben.«
Katharina wollte am liebsten ihre ganz und gar ungeordneten Verhältnisse schildern, doch Polanski war schneller: »Frau Klein ist eine gute und verantwortungsbewusste Polizeibeamtin. Sie können sicher sein, dass ihre Verhältnisse geordnet sind.«
»Ja, bei ihr ist es ganz toll aufgeräumt!« Laura hatte sich fest an Katharinas Hand geklammert.
»Na dann …« Theresa Ludwig schien zufrieden.
»Ich muss energisch protestieren«, quiekte Elfie LaSalle. »Wissen Sie, was sie Laura heute zum Frühstück mitgegeben hat? Eine Tafel Schokolade. Und Laura hat erzählt, dass sie bis spät in die Nacht Filme geschaut haben. Und es gab Pizza!« Sie spuckte das Wort aus wie ein besonders ekliges Stück Knorpel.
Alle drehten sich zu Katharina um.
»Ich … ich hatte nicht eingekauft«, sagte Katharina kleinlaut. »Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass …« Theresa Ludwigs Blick war deutlich abgekühlt.
Polanski kam Katharina zu Hilfe: »Frau Klein hat sich gestern Abend spontan bereit erklärt, Laura für eine Nacht zu beherbergen. Da kann so etwas schon mal vorkommen.«
»Und der Film?«, fragte Elfie LaSalle streitlustig. »Der war nicht für Lauras Altersstufe freigegeben. Das weiß ich genau.«
Polanski wandte sich an Katharina: »Was für ein Film war das denn?«
»Shrek«, rief Laura dazwischen.
Polanski sagte freundlich: »Ach, den liebt meine Enkelin über alles. Und die ist auch vier.«
»Ich bin fast fünf«, korrigierte Laura ihn streng.
»Wie meine Enkelin.«
Polanski hatte eine Enkelin? Soweit Katharina wusste, hatte er nicht mal Kinder.
»Das ist ja völlig verantwortungslos. Und dann das Auto. Das hat ja gar keinen Kindersitz«, ereiferte Elfie sich weiter.
Das war Katharinas Chance: »Herr Polanski, so gern ich aushelfen würde, aber Frau LaSalle hat recht: Ich bin überhaupt nicht vorbereitet auf so eine Situation.«
Laura begann bitterlich zu weinen: »Bitte, ich will bei dir bleiben.«
Katharina nahm das Mädchen in den Arm. Sie wollte etwas sagen. Polanski kam ihr zuvor: »Katharina? Ein Wort unter vier Augen bitte!«
Doch Laura wollte nicht loslassen. Wo blieb nur die Ohnmacht, wenn man sie brauchte?
»Komm, Laura, zeig mir mal euer Spielzimmer.« Das war Frauke Müller-Burkhardt, die die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. Laura sah Katharina fragend an.
»Ja, zeig ihr das Spielzimmer. Ich bin gleich zurück.«
»Bitte wiederkommen«, flehte Laura mutlos.
»Natürlich komme ich wieder. Versprochen!«
Polanski fasste Katharina am Arm und zog sie hinaus. Er schloss sorgfältig die Tür.
»Katharina, wie können Sie so herzlos sein?«
Sie blickte beschämt zu Boden: »Ich kann mit Kindern nichts anfangen.«
»Haben Sie unser Gespräch von gestern schon wieder vergessen? – Genau das meinte ich. Sie weigern sich, Verantwortung zu übernehmen.«
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