»Was soll ich –?«
»Füttern. Sie werden sehen, das beruhigt.«
»Schauen Sie sich bitte die Bilder an?«
»Erst füttern!« Er schob ihr einen Stuhl zu. Es half wohl nichts. Sie setzte sich vorsichtig, das Kind auf dem Arm balancierend. Es presste den Kopf an ihre Brust. Katharina schob das Mundstück der Trinkflasche vorsichtig zwischen die kleinen Lippen. Das Baby begann zufrieden daran zu nuckeln. Katharina schaukelte es sanft. Sie spürte, wie sich ihr Nacken lockerte. Sie musste sich zwingen, ihre Augen offenzuhalten.
Dr. Amendt grinste. »Das funktioniert immer. Ein angeborener Reflex, nehme ich an. Stillen wäre natürlich noch besser.«
Katharina funkelte ihn böse an. Dabei zog sie dem Kind unabsichtlich den Nuckel aus dem Mund. Es begann leise zu greinen. Rasch korrigierte sie ihren Fehler. Zufrieden trank das Kind weiter und schmiegte sich an sie.
»Werden Sie sich jetzt die Bilder ansehen?«
Dr. Amendt hob ein weiteres Kind aus seinem Bettchen. »Gleich. Und als Privatmann gern. Aber als Rechtsmediziner? – Offen gesagt, ich bin suspendiert.«
»Warum das denn?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Im Grunde«, sagte er und gab dem Kind auf seinem Schoß die Flasche, »ist die kleine Johanna hier schuld dran. Aber ich will Sie nicht langweilen.« Er begann wieder zu summen.
Die Schwester nahm ihr das Kind ab. Katharina fühlte sich nackt. Beinahe hätte sie gefragt, ob sie nicht noch eines füttern könnte.
Endlich war auch das Kind auf Dr. Amendts Schoß satt. Er legte es in sein Bettchen und deckte es zu: »Schlaf gut, Johanna.«
Dann nahm er den Umschlag. »Jetzt wollen wir mal schauen, was Eric so Weltbewegendes entdeckt hat. Hier entlang, bitte.«
Er führte Katharina in ein kleines Sprechzimmer. Sie blieb am Eingang stehen, während der Arzt die Bilder schweigend betrachtete. Dann schaltete er den Röntgenfilmbetrachter aus: »Ich will sie sehen. Kommen Sie!«
Er begleitete sie auf dem Weg zur Umkleidekabine und schloss ihr die Tür auf. »Ich schaue noch mal kurz nach Johanna. Klopfen Sie einfach an die Scheibe, wenn Sie fertig sind. Aber leise.«
Ein seltsamer Mann, dachte Katharina, während sie die Tür hinter sich schloss. Sie schlüpfte aus den Krankenhauskleidern.
Die Tür öffnete sich erneut. Katharina sah auf.
Eine Frau betrat den Umkleideraum, vielleicht Ende dreißig. Ihr schwarzes Haar war zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als sie Katharina erblickte, sagte sie mit der ruhigen, kühlen Autorität einer Ärztin: »Wer sind Sie?«
»Katharina Klein vom KK 11.« Eine halbe Notlüge. »Ich hatte etwas mit Doktor Amendt zu besprechen.«
»Wegen Alexandra Taboch?«
»Wegen wem? Nein, es geht um einen Fall. Seine Sekretärin hat mir gesagt, wo ich ihn finde.«
»Tja, man könnte meinen, er sei Kinderarzt, so oft, wie er hier ist. – Ich bin übrigens Katja Meyer. Ich leite diese Station.« Die Frau reichte Katharina die Hand. Der Händedruck war fest und kühl, die Hand knochig und kräftig.
»Under Her?«, fragte sie und deutete auf Katharinas seidenen, schwarzen Body. Katharina bejahte.
»Schöner Laden.« Und damit streifte Katja Meyer ihren Pullover über den Kopf. Darunter trug sie ein Schnürkorsett aus schwarzem Samt. Auch schön, dachte Katharina. Dann sah sie den Anhänger am Hals der Frau – drei verschlungene Bögen, aus denen man mit etwas gutem Willen zwei S und ein C herauslesen konnte: »Save, Sane, Consensual«, der Wahlspruch der S/M-Szene.
Katharina schlüpfte rasch in ihre Kleidung und sah in den Spiegel, der an der Wand hing. Ihr Make-up konnte etwas Auffrischung vertragen. Sie nahm den Eyeliner und die Puderdose aus ihrer Handtasche und begann, sich zu restaurieren. Die Ärztin sah ihr über die Schulter. »Ich hoffe, Sie machen sich nicht für Andreas so fein?«
Katharina schüttelte den Kopf. Wie kam sie denn auf diese Idee? Sie wollte einfach nur passabel aussehen. Das war doch nicht verboten.
»Das hätte ohnehin keinen Sinn.« Die Ärztin lachte. »So ungefähr die Hälfte aller Frauen in diesem Krankenhaus macht Jagd auf ihn. Erfolglos. Die meisten meinen, er ist schwul.«
»Und Sie?«
»Ich halte ihn für einen kinderlieben Vanilla …« Sie korrigierte sich: »Für einen kinderlieben Mann, der –«
Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen. Auf dem Flur schrien sich zwei Männer an.
Die beiden Frauen stürmten aus dem Umkleideraum. Ein Mann hielt Andreas Amendt am Kragen seines Kittels gepackt, drückte ihn gegen die Wand des Flurs und brüllte: »Lassen Sie die Finger von Johanna Taboch! Sie haben hier nichts verloren!«
Katharina wollte dazwischengehen, doch die Stimme von Katja Meyer peitschte bereits über den Flur: »Henthen! Lassen Sie sofort Doktor Amendt los!«
Der Angesprochene sah zu ihr hin. Dann nahm er die Hände von seinem Opfer. »Doktor Amendt hat auf meiner Station nichts verloren«, bellte er Katja Meyer an.
»Das hier ist meine Station«, erwiderte die Ärztin gelassen. »Die Abteilung für Reproduktionsmedizin ist eine Etage tiefer. Und dorthin bitte ich Sie jetzt zu gehen.«
»Was erlauben Sie sich?« Der Mann baute sich vor Katja Meyer auf. Sie war größer als er. »Ich bin immerhin Chefarzt der Reproduktionsmedizin.«
»Und ich bin Chefärztin der Säuglingsstation.« Katja Meyer ließ sich jede Silbe auf der Zunge zergehen. »Und wenn Sie weiter so einen Lärm machen, lasse ich Sie vom Sicherheitsdienst entfernen.«
Der Mann holte Luft, doch Katja Meyer zog gelassen einen Notfall-Piepser aus der Brusttasche ihres Kittels. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie den Mann an, bis er endlich die Schultern sinken ließ, sich umdrehte und türenknallend verschwand.
Katharina fragte in die Stille hinein: »Wer war das denn?«
»Das war Professor Doktor Markus Henthen. Wenn man dem Zentralblatt für Gynäkologie folgt, einer der ›weltweit führenden Experten für Reproduktionsmedizin‹.« Katja Meyer steckte den Piepser wieder zurück in die Brusttasche ihres Kittels.
»Und Sie teilen diese Meinung nicht?«
»Nein. Henthen ist ein übler Faschist, den man bei Gelegenheit mal ordentlich durchpeitschen sollte.«
»Ohne Safeword, nehme ich an?«, fragte Katharina.
Die Ärztin grinste böse: »Natürlich.«
»Ohne was?« Dr. Amendt hatte ihnen bis jetzt wortlos zugehört.
»Ohne Safeword«, antwortete die Ärztin sachlich. »Zeig mal deinen Hinterkopf.« Dr. Amendt ging in die Hocke. Katja Meyer taste seinen Kopf sorgsam ab. »Kleine Beule, nichts Schlimmes.«
»Hör mal, Katja, vielleicht ist es besser, wenn ich –«
»Du bist auf meiner Station immer herzlich willkommen«, unterbrach ihn Katja Meyer streng. »Schon aus ganz egoistischen Gründen. Ich kann hier jede Hand brauchen.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Katharina spürte einen kleinen Stich im Bauch. Warum auch immer.
»So, und jetzt muss ich nach meinen Kindern schauen. Ich hoffe, Henthen hat sie nicht allzu sehr aufgeregt.« Eilig ging die Ärztin davon.
Katharina und Dr. Amendt sahen ihr nach. Dann drehte sich der Arzt zu ihr um. »Dann wollen wir mal …«
Er hielt Katharina ganz selbstverständlich die Tür auf. Während sie auf den Fahrstuhl warteten, fragte sie: »Was haben Sie denn diesem Henthen angetan?«
»Nichts, was ich nicht jederzeit auch vor Gericht beeiden könnte.«
***
»Und? Was denkst du?«, fragte Dr. Neurath sofort nach der Begrüßung. Dr. Amendt öffnete den Umschlag mit den Bildern. Die beiden Ärzte traten an den Röntgenfilmbetrachter.
»Also ich sehe zwei Eindrücke. Fast im gleichen Winkel. Sturz- oder Schlagverletzung. Ohne Autopsie schwer zu sagen.«
»Außerdem hat sie eine Platzwunde am Hinterkopf«, ergänzte Dr. Neurath.
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