Dr. Amendt runzelte die Stirn. »Wenn Murphy zuschlägt. Ich will sie mir mal selbst anschauen. Irgendwelche Einwände?«
Dr. Neurath zuckte mit den Achseln. »Keine. Vielleicht fällt dir ja noch was ein. Ich bin ehrlich gesagt mit meiner Kunst am Ende.«
Er führte Katharina und Dr. Amendt in das Zimmer, in dem Melanie Wahrig lag. Ihre Augen waren jetzt geschlossen. Auf den ersten Blick konnte man sie für tot halten, doch das EKG zeigte immer noch einen Puls.
Dr. Amendt ging zum Bett und beugte sich über die Patientin. »Hast du die beiden blauen Flecken gesehen?«, fragte er und deutete auf den Kiefer und neben das linke Auge.
»Vielleicht Prellungen vom Sturz. Obwohl sie auf die andere Seite gefallen ist.«
»Seltsam. Frau Klein? Auf welcher Seite lag sie, als Sie sie gefunden haben?«
»Auf der rechten.«
Dr. Amendt betrachtete Melanie Wahrig weiter und schwieg. Dann hob er den Kopf. »Habt ihr eine UV-Lampe hier?«
»Ich glaube nicht.« Dr. Neurath hob ratlos die Schultern.
Der Rechtsmediziner wandte sich an Katharina. »Sie vielleicht? Haben Sie eine UV-Lampe? So eine, wie sie die Spurensicherung benutzt?«
Katharina verneinte. Sie hatte zwar ein gut ausgerüstetes Kit für alle Fälle, aber das stand im Kofferraum von Morris.
»Moment!« Dr. Neurath eilte aus dem Raum. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Geldnotenprüfgerät zurück. »Geht das? – Wir haben hier seit Neuestem Sicherheitsausweise mit UV-Kennung.«
Dr. Amendt schaltete das Gerät ein und hielt es über das Gesicht von Melanie Wahrig. »Dachte ich es mir doch. Seht ihr das?«
Die beiden Blutergüsse waren die Spitzen eines Handabdrucks, der sich klar und deutlich auf dem Gesicht abzeichnete. »Okkulte Prellungen.«
»Ich habe ihr ein paar Klapse auf die Wange gegeben«, sagte Katharina schuldbewusst.
»Nein, das waren Sie nicht. Die Hand ist gespreizt. Und größer als Ihre.« Dr. Amendt richtete sich auf. »Fremdeinwirkung. Da bin ich mir ziemlich sicher. Das erklärt auch die fast parallelen Einschläge. Jemand hat sie gepackt und gegen etwas geschlagen.«
Katharina sah, wie Andreas Amendt tief durchatmete. Schließlich fragte er den Neurologen: »Und jetzt?«
»Der Hirndruck ist einfach zu hoch. Wir können nichts tun als abzuwarten.«
Dr. Amendt sah auf den EEG-Monitor. »Kaum noch Hirntätigkeit. Vielleicht kann man den Druck noch mal reduzieren?«
»Haben wir schon versucht. Einen weiteren Eingriff überlebt sie nicht.«
»Hat sie Verwandte?«, fragte Dr. Amendt Katharina.
»In Frankfurt nur ihre Tochter. Ihre Eltern wohnen in Spanien und ihr Exmann ist verreist.«
»Wo ist die Tochter jetzt?«
»Im Kindergarten. Sie ist vier.« Verdammt, wer sollte das alles bloß Laura erklären? »Und ich werde sie bestimmt nicht hierherbringen«, fügte Katharina giftig hinzu. »Nicht in ein Krankenhaus, nicht um ihrer Mutter beim Sterben zuzusehen.« Ihre Stimme überschlug sich. Zwei Arme packten sie. Andreas Amendt drückte sie an sich.
»Ganz ruhig. Das verlangt ja auch niemand.« Er strich ihr über das Haar. Katharinas Augen füllten sich mit Tränen. Trotzig machte sie sich los und ging aus dem Raum. Dr. Neurath folgte ihr.
»Möchten Sie ein Valium?«
Katharina schüttelte den Kopf. Typisch Neurologe.
Auch Andreas Amendt kam auf den Flur. Katharina wartete auf das ärztliche »Geht’s wieder?«. Aber es kam nicht. Sie sah ihn an. »Entschuldigung«, murmelte sie.
»Kein Problem.«
Katharina atmete durch und wandte sich an Dr. Neurath: »Aber Sie müssen ihr doch irgendwie helfen können.«
»Medizinisch?« Der Neurologe blickte zu Boden. »Nein. Wir können nur warten. – Wissen Sie zufällig, was Frau Wahrig gerne liest?«
»Warum?«
»Manchmal hilft es, wenn Koma-Patienten eine Stimme hören. Ich werde ihr etwas vorlesen.«
Katharina dachte nach. Da war doch irgendetwas? Klar. »Kitschromane!« Katharina hatte das immer gewundert bei der jungen und intelligenten Frau. »Herzschmerz und wahre Liebe. Unglückliche Frauen, die von einem Prinzen auf einem weißen Pferd gerettet werden.«
»Sie haben so etwas nicht zufällig dabei?«, fragte Dr. Neurath.
Katharina schüttelte den Kopf. Doch Dr. Amendt sagte: »Jeannie liest solches Zeug dauernd. Wo ist dein Telefon?«
***
Katharina stürmte in Polanskis Büro, ohne anzuklopfen, Andreas Amendt im Schlepptau. Als sie sah, mit wem der Kriminaldirektor gerade sprach, überkam sie das dringende Bedürfnis, sofort die Flucht zu ergreifen.
»Meine Liebe!«, rief die Frau entzückt. Katharina ließ die Wangenküsschen peinlich berührt über sich ergehen.
»Frauke Müller-Burkhardt. Oberstaatsanwältin.« Die Frau streckte dem Rechtsmediziner burschikos die Hand hin.
»Das ist Doktor Andreas Amendt. Stellvertretender Chefarzt der Rechtsmedizin«, sagte Katharina. »Und das hier ist Kriminaldirektor Polanski.«
Die beiden Männer starrten sich an.
»Wir kennen uns«, sagte Dr. Amendt nach einem Moment eisigen Schweigens.
»Also, Katharina«, übernahm Polanski rasch das Gespräch. »Was wollen Sie hier?«
»Jemand hat versucht, meine Nachbarin zu töten.« Sie sprudelte die ganze Geschichte hervor. Polanski hörte ihr aufmerksam zu. Als Katharina geendet hatte, musterte er sie nachdenklich: »Und jetzt wollen Sie natürlich ermitteln?«
Katharina zögerte; dann antwortete sie kleinlaut: »Ja.«
»Das ist absolut unmöglich.«
»Warum?«, fragte sie giftiger als sie beabsichtigt hatte.
»Weil Sie vorgestern zwei Menschen erschossen haben!«, schnauzte Polanski zurück. »Und bis zur endgültigen Aufklärung der Vorgänge sind und bleiben Sie beurlaubt.«
Andreas Amendt hob beschwichtigend die Hände. »Aber –«
»Und mit Ihnen rede ich gar nicht erst«, fiel ihm Polanski ins Wort. »Ihr Chef hat schon längst ein Fax geschickt, dass Sie suspendiert sind. Wegen haltloser Verdächtigungen.«
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Andreas Amendt den Kriminaldirektor schlagen. Doch dann machte er auf dem Absatz kehrt. Die Bürotür fiel hinter ihm knallend ins Schloss.
In das betretene Schweigen hinein klingelte Katharinas Handy. Automatisch griff sie in ihre Jackentasche und antwortete. Dr. Eric Neurath. Sie hörte noch, was er sagte. Dann rutschte ihr das Telefon aus der Hand. Die Staatsanwältin fing sie auf und führte sie zu einem Sessel.
»Melanie Wahrig ist tot«, murmelte Katharina. Verdammt, sie war doch sonst so hart im Nehmen. Polanski drückte ihr ein Glas in die Hand. Sie nahm einen Schluck. Kognak. Der Alkohol brannte wie Feuer. Aber wenigstens spürte sie ihren Körper wieder.
»Katharina?«, sagte Polanski leise. »Ich veranlasse gleich alles Notwendige. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus.«
Katharina dachte an den vorherigen Abend. Pizza. Shrek. Ein giftgrüner Teddybär.
»Jemand muss es Laura beibringen. Das ist die Tochter. Sie ist fast fünf«, erklärte sie mechanisch.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Polanski.
»Im Kindergarten.«
Polanski ging zum Telefon. Knapp gab er Anweisungen. Katharina bekam nur Bruchstücke mit: »Autopsie … sofort … keinen Aufschub … Jugendamt …«
Endlich war das Telefonat beendet. Katharina sah ihren Chef an: »Die Spurensicherung braucht sicher einen Schlüssel.«
»Katharina, erst brauche ich eine Bestätigung für das, was Sie mir erzählt haben. Aber Professor Metzel macht sich gleich an die Autopsie. Ich kümmere mich um alles.«
»Und jetzt?«, fragte Katharina.
»Jetzt fahren wir in den Kindergarten zur Tochter.«
»Sie auch?«
»Natürlich. Und Theresa Ludwig vom Jugendamt kommt auch mit.«
»Ich bin auch dabei«, verkündete Frauke Müller-Burkhardt resolut. Fast war Katharina ihr dankbar.
Читать дальше