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Erschrocken starrte er den Honk an, dessen Gesicht unter einer dicken Paste aus ranzigem Fett und Ruß verschwand. Honks, so hatte man anfangs marodierende Soldaten genannt. Mittlerweile war es zu einem Begriff für bewaffnete Männer und Frauen mit dem Intellekt eines Toastbrots geworden.
»Konntest deine Finger nicht vom Würfel lassen, was?«, kicherte jemand in Christians Rücken.
Er zuckte zusammen. Noch ein Honk! Die Hand auf seiner Schulter ließ nicht zu, dass er sich dem Sprecher zuwandte. Aber das war auch nicht notwendig. Der kam um ihn herum. Er war genauso ein Kleiderschrank wie ‚Honk 1’, nur etwas kleiner. Auch er hatte sein Gesicht mit der Tarnpaste beschmiert und er trug eine Maschinenpistole, deren Lauf auf Christians Bauch zeigte. Im Gegensatz zu ihrem Träger, sah die Waffe gepflegt aus.
»Warst du nur neugierig oder weißt du, was du da angefasst hast?«, fragte der mit der MP weiter.
Christians Blick hatte sich an der Schusswaffe festgesaugt. Das war eine UZI. Ein ziemlich altes Modell. Die Dinger waren selbst gesichert gefährlich.
»Interessiert dich mein Baby?«, fragte der Honk mit einem bösartigen Lachen.
»Was?« Verwirrt tauchte Christian aus seiner Gedankenwelt auf. Der Kerl hatte ihn etwas gefragt. Warum gelang es ihm nur nie seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. »Ich, äh…der Würfel«, versuchte er es auf gut Glück. »Ich wollte ihn mir nur ansehen.«
»Ansehen?«, fragte der mit der Maschinenpistole hämisch. »Wolltest du testen, ob das was zu essen ist?«
Der andere Honk, der ihn noch immer an der Schulter festhielt, kicherte. Offensichtlich war das eine Art Honkhumor. Christian wusste jetzt schon, dass er damit nichts anfangen konnte. Aber jetzt war nicht die Zeit, um die Augen zu verdrehen. Er musste sich eine Antwort überlegen und das schnell.
So unschuldig wie möglich, sah er dem Mann in die Augen und versuchte zu ergründen welche Antwort die Günstigere für ihn war. Der große Knall hatte viele Menschen zu Technikfeinden werden lassen. Man machte Wissenschaftler, Ingenieure und Programmierer für die Katastrophe verantwortlich. Am meisten die Programmierer. Wenigstens kam ihm das so vor.
»Bist du stumm geworden?«, fragte ‚Maschinenpistole’ mit den ersten Zeichen von Ungeduld.
Jetzt hatte er den Faden verloren. Unvermittelt quetschte ‚Honk 1’ ihm die Schulter. »Au!« Empört sah er seinen Peiniger an.
»Kann noch immer reden«, bemerkte der zufrieden und kehrte in seine abwartende Position zurück.
Ärgerlich rieb Christian sich die schmerzende Schulter.
»Anscheinend braucht unser Gast etwas Hilfe beim Reden.« Maschinengewehr grinste böse. »Zeig ihm die Wand, Gabriel.«
Gabriel drehte ihn wie eine Puppe um seine Achse und schob ihn näher an die Mauer, die seinen Flug so unsanft gebremst hatte. Erst jetzt fielen Christian die Einschusslöcher auf. Seine Knie wurden weich.
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Der Schmerz machte ihr nichts aus. Eher erinnerte er sie daran, dass sie noch lebte. Entschlossen zog Kamherra die Bürste ein weiteres Mal durch ihr widerspenstiges Haar. »Widerstand ist zwecklos!«, kicherte sie manisch. Aus welchem Film war das noch gewesen? Sie erinnerte sich nicht.
Rupf! Es tat weh, wenn sich die Bürste in einem Knoten verfing, aber wenigsten hatte sie keinen Haarausfall. Wie so viele andere nach dem großen Knall. Ob das ein gutes Zeichen war? Vielleicht war sie nicht so schlimm verstrahlt.
Wieder stahl sich ein hysterisches Lachen über ihre Lippen. Spielte das noch eine Rolle? Gesund sein, für ein möglichst langes, einsames Leben in dieser Sandwüste? Wann hatte sie das letzte Mal einen anderen Menschen gesehen? Einen lebenden Menschen, der seinen Verstand noch beisammen hatte und sie nicht umbringen wollte. Gab es überhaupt noch welche? Seit einer Ewigkeit hatte sie nur noch Leichen gesehen. Und sie hatte die angefasst, um an ihre Habseligkeiten zu kommen.
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Siw schlitterte die Sanddüne herunter. Die Frau hörte und sah nichts. Sie war vollkommen in ihr monotones Bürsten versunken. Am Fuß der Sanddüne blieb Siw stehen und betrachtete die Fremde. Ihre Haare begannen unter den beharrlichen Bürstenstrichen zu glänzen. Wie Siw, trug sie ein Tank Top und dazu einen Rock.
Siws Mund wurde trocken. Was tat sie hier eigentlich? Wollte sie diese Frau wegen etwas Wasser und einer Bürste umbringen? Sie hatte noch nie jemanden ermordet und wollte damit auch jetzt nicht anfangen. Sie ließ den Revolver sinken.
Unvermittelt kicherte die Frau vor ihr wieder. Die Haare an Siws Armen richteten sich auf. Erinnerungen an die Irren in den Ruinen der Städte tauchten vor ihr auf. Weit aufgerissene Augen, wirres Haar und geifernd wie tollwütige Hunde. Sie riss die Waffe wieder hoch und zielte genau auf einen Punkt zwischen den Schulterblättern. Auch wenn sie noch nie gemordet hatte, getötet hatte sie schon. Einen dieser Wahnsinnigen, der plötzlich sabbernd vor ihr gestanden hatte. Noch immer lief es ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie daran dachte. Das Kichern veränderte sich und die Schultern der Frau begannen zu zucken.
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Er erstarrte zur Salzsäule. Der Hund war mit einem Aufheulen in der Dunkelheit verschwunden, obwohl er ihn nicht einmal verletzt hatte. Er hatte sich einfach erschrocken, als Gaius mit einem lauten ‚Aus!’ und dem Messer in der Hand auf ihn zugesprungen war. Und während er dem seltsamen Hund nachschaute, hatte sich etwas kaltes Rundes in sein Genick gebohrt. Den letzten Zweifel, worum es sich dabei handelte, beseitigte ein metallenes Knacken.
»Böser Junge!«, sagte jemand hinter ihm amüsiert.
Die Mündung der Waffe rutschte an seiner Wirbelsäule herunter, ohne den Kontakt mit seinem Körper zu verlieren. Auf Höhe seiner Nieren hielt sie an.
»Was ist so Wertvolles in dem Rucksack?«, erkundigte sein Angreifer sich.
Warmer Atem streifte Gaius Ohr. Mühsam unterdrückte er ein Schaudern. Er hasste es, wenn ihm jemand so nah kam, dazu brauchte es nicht einmal eine Pistole.
»Magst du mir nicht antworten?«, fragte die Stimme rau.
Der Mann hinter ihm lachte unangenehm. »Oh, und lass bitte das Messer fallen.«
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Traurig schaute Rixel auf die Skala der Energiezelle. Ihm blieb nicht einmal mehr ein ganzer Monat. Ein paar Stunden konnte er hinzugewinnen, wenn er etwas zu essen fand. Ohne viel Hoffnung suchte er den Horizont ab. Sand im Norden, Sand im Westen und im Süden. Die einzige Erhebung in dieser lebensfeindlichen Wüste war die Stadt in seinem Rücken, aus der er hinausgeflogen war. Und in der auch seine Tasche, mit der letzten vollen Energiezelle, zurückgeblieben war.
Mittlerweile war er zu der Ansicht gelangt, dass die Hand der Frau sich nicht zufällig im Griff seiner Tasche verheddert hatte. Sie hatte vermutlich von Anfang an vorgehabt ihn zu bestehlen.
Unschlüssig schaute er auf die Stadt zurück. Sollte er sich zurückzuschleichen und im Schutz der Nacht über den Palisadenzaun klettern, um sich sein Eigentum zurückholen? Vielleicht konnte er dann auch noch etwas von dieser braunen Limonade ergattern, die sie als Cola verkauften. Diebe zu bestehlen war kein Raub. Und ihm konnte es helfen. Mit diesem Zuckerwasser und etwas Brot konnte er die Lebensdauer seiner Energiezelle strecken. Also seine eigene! Was hatte er zu verlieren?
‚Falsche Frage’ schoss es ihm durch den Kopf. Richtig musste es heißen: ‚Was konnte er gewinnen?’ Eine lange, einsame Zeit in dieser Sandwüste. Ausgestoßen aus den Resten der menschlichen Gemeinschaft. Er seufzte schwer und setzte seinen Weg fort. Weg von der Stadt.
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Christian hätte am liebsten laut geschrien, vor Ekel und Verzweiflung. Langsam und sorgfältig tastete Gabriel seinen Körper ab. Jeden noch so unbedeutenden Gegenstand zog der Honk aus seiner Tasche und warf alles auf einen Haufen in den Sand.
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