(90) Erst wenn eine technische Lösung aufgefunden wird, zu der der Fachmann (zur Zeit des Anmeldetages) normalerweise nicht gekommen wäre, ist eine Patentierung gerechtfertigt. Die normale technische Entwicklung ist dann übersprungen worden, es liegt eine „entwicklungsraffende“ Lösung vor: sie rechtfertigt es, dem schöpferisch tätig gewordenen Erfinder ein Ausschließungsrecht zuzuerkennen. Denn dann beruht die Erfindung nicht auf bloßem fachmännischem Tun, sondern auf besonderer „erfinderischer Tätigkeit“.
(91) Das Gesetz definiert diese Schutzvoraussetzung der „erfinderischen Tätigkeit“ (sog. „Erfindungshöhe“) wie folgt: die Erfindung darf sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben, das heißt: die dem Fachmann bekannten oder zugänglichen Kenntnisse dürfen ihn nicht zu dieser Lösung führen.
RU Art 1350 (2) ZivG
DE § 4 PatG.
(92) Besondere Anerkennung verdient nämlich der Erfinder, der der Allgemeinheit eine technische Lösung offenbart, die er (sei es durch einen plötzlichen Einfall, sei es durch lange Suche) gefunden hat, während dies Fachleuten bisher nicht gelingen konnte.
Worin liegt der Sinn des Offenbarungserfordernisses?
(93) Der Gedanke der Offenbarungsfunktion von Patenten hat in verschiedenen Grundsätzen seinen Niederschlag gefunden: das Patenterfordemis der ausreichenden Erfindungsbeschreibung , die Beschränkung des Schutzumfangs auf das tatsächlich Offenbarte, darüber hinaus das Anmeldeprinzip, das nicht dem ersten Erfinder, sondern demjenigen das Patent einräumt, der die Erfindung zuerst anmeldet und offenbart, die Bestimmungen über Veröffentlichung der Anmeldungsunterlage und Akteneinsichtnahme, die Regelung, alle Patentanmeldungen spätestens nach 18 Monaten offenzulegen, ohne das Prüfungsverfahren abzuwarten.
(94) Neben den formellen Erfordernissen für die Vollständigkeit einer Anmeldung ist zugleich die materielle Schutzvoraussetzung der ausreichenden Offenbarung zu beachten: Die Erfindung ist in der Anmeldung so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Der Anmelder darf den wesentlichen Kern seiner Erfindung nicht verschweigen oder verschleiern, um sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Soll ein vom Erfinder behaupteter Vorteil das eigentliche Wesen der Erfindung ausmachen, so muss dieser Vorteil, wenn er patentbegründend sein soll, in der Patentschrift offenbart sein.
(95) Natürlich will/muss man nicht mehr (z.B. an Verfahrens -know how) in der Anmeldung offenbaren, als für den Erwerb des Patents notwendig ist. Denn der Schutz erfasst nur den Schutzgegenstand aus dem Patentanspruch und nicht sonstige begleitende Einzelheiten aus der Patentbeschreibung. Wird zu wenig offenbart, reicht es aber für das Patent nicht aus. Das ist das Katzenzaun-Problem: Vor dem Zaun macht sich die Katze ganz eng, um durch die Zaunlatten hindurch zu kommen (möglichst wenig offenbaren, um nichts unbedingt Notwendiges mitzuteilen); hinter dem Zaun bläst sich die Katze mächtig auf, (um möglichst viel an ähnlichen Ausführungsformen bei den Konkurrenten mit dem Patent verbieten zu können).
(96) Wichtig im übrigen: nach Einreichung der Anmeldung darf die darin enthaltene Offenbarung nicht erweitert werden.
Welche Rolle spielt der technische „Fachmann“ im Patentrecht?
(97) Der „Fachmann“ hat im Patentrecht eine besondere Bedeutung. Nämlich dann, wenn es um das Verständnis (um die Auslegung) einer technikbezogenen Erklärung oder Darstellung oder Zeichnung oder Kodierung geht.
(98) Juristisch gesehen richtet sich der Erklärungsinhalt (der Aussagegehalt) einer rechtserheblichen Äußerung nach dem Verständnis (dem Erklärungshorizont) der Beteiligten (in erster Linie des Erklärenden). Im Patentrecht wird der Erklärungsinhalt (der Offenbarungsgehalt) einer technischen Offenbarung (Erklärung, Darstellung, Zeichnung, Kodierung) danach bestimmt, was der technische Fachmann daraus entnimmt. Einfaches Beispiel: H 20 heißt für den Fachmann Wasser. Das weiß nicht unbedingt jeder technische Laie; der Offenbarungsgehalt dieser Buchstaben-/Zahlenfolge eröffnet sich aber dem Fachmann; und zwar dem durchschnittlichen Fachmann (Durchschnittsfachmann) . Hierbei ist dreierlei zu beachten:
(99) Erstens gibt es nicht den allzuständigen technischen Fachmann. Der im Patentrecht gemeinte Fachmann ist vielmehr derjenige, der im konkreten Fall für die dort behandelte technische Problematik technisch im allgemeinen zuständig wäre, also z.B. bei H20 ein Chemiker, bei bit und byte ein Informatiker usw. Je nach dem technischen Niveau des im konkreten Fall behandelten Problems kann es sich z.B. um einen Professor oder einen Facharbeiter oder einen einfachen Praktiker usw. handeln. Damit wird zugleich deutlich: der im jeweiligen Fall beim Patentamt oder Gericht maßgebliche “Durchschnittsfachmann“ ist nicht der Patentprüfer oder der gerichtliche Sachverständige.
(100) Zweitens ist bei der Bewertung der Erfindung zu berücksichtigen, dass der technische Fachmann der technischen Offenbarung unterschiedliche Inhalte entnehmen kann, je nachdem ob er sie nur flüchtig und oberflächlich zur Kenntnis nimmt oder ob er sie aufmerksam liest oder sogar intensiv studiert oder sich darüber hinaus akribisch nachforschend und vergleichend in sie vertieft. Der im Patentrecht gemeinte Fachmann ist nun derjenige, der als Fachmann durchschnittlicher Qualifikation eine Offenbarung aufmerksam aufnimmt; alles das (und nur das), was er dabei ohne weiteres als technischen Gehalt entnehmen kann, ist patentrechtlich erheblich.
(101) Drittens ist der Fachmann des Patentrechts kein „zeitloser“ Fachmann; er ist der Fachmann, wie er am Anmeldetag/Prioritätstag des jeweils vorliegenden Patents existierte. Wird also über die Patenterteilung oder später über das Schicksal des Patents (beim Patentamt oder vor Gericht) entschieden, muss auf das fachmännische Wissen und Können des jeweiligen Zeitrangs abgestellt werden.
(102) Dieser Maßstab des „Durchschnittsfachmanns“ ist für die verschiedenen Stellen im Patentrecht, in dem technische Inhalte wichtig werden, von Bedeutung, insbesondere
für den letztlich gültigen Inhalt der Patentanmeldung
für erklärte Beschränkungen und Erweiterungen der Anmeldung und des Patents
für den Aussagegehalt der Schriften, Dokumente und sonstigen Quellen im Stand der Technik
für die Frage, ob die Ausführungsform eines Dritten das Patent verletzt.
Stand der Technik, was soll das genau (patentrechtlich) heißen?
(103) Das Gesetz nennt als Stand der Technik: alle technisch relevanten Informationen, die irgendwo auf der Welt veröffentlicht oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind.
RU Art. 1350 (2) ZivG
DE § 3 (1) PatG
(104) Allerdings: eine zeitliche Relativierung ist zu beachten, denn der Stand der Technik vergrößert sich mit jedem Tag -täglich kommt neues technisches Wissen hinzu. Der Stand der Technik im Sinne des Patentgesetzes stellt eine Momentaufnahme dar: Es handelt sich um den Wissensstand, der am Anmeldetag verfügbar war. Anmeldetag heißt hier: der Tag, an dem diejenige Anmeldung eingereicht worden ist, für welche der Stand der Technik jeweils von Bedeutung ist; ist eine Priorität beansprucht, so ist der Anmeldetag der prioritätsbegründenden Voranmeldung der maßgebende Zeitpunkt.
(105) Nicht nur schriftlich dokumentiertes Wissen ist Stand der Technik. Auch auf andere Weise offenbartes Wissen (z. B. mündlich, oder: einen Gegenstand zeigen) begründet Stand der Technik.
(106) Für die patentrechtliche Frage der „Neuheit“ (nicht der Erfindungshöhe) kommt als Stand der Technik hinzu: jede Anmeldung für ein (Erfindungs-)Patent, die vor diesem Zeitpunkt eingereicht, aber erst danach a) der Öffentlichkeit vom Patentamt zugänglich gemacht worden ist oder b) zur Patenterteilung geführt hat („ältere Anmeldung“). Was bereits zu diesem Stand der Technik gehört, ist also nicht „neu“, nicht patentfähig.
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