Sie verließen das Büro – Silya ignorierte Blohms Blicke – und gingen zu den Aufzügen. Auf dem Weg dorthin schlug Patrick einen gemeinsamen Nachmittag vor.
»Nein, ich habe wirklich keine Zeit, Patrick. Ich muss tausend Dinge besorgen.«
»Ich helfe dir, die Tüten zu tragen.«
»Katzenfutter, Milch und Frühstücksflocken, Toilettenpapier, Waschpulver«, zählte Silya auf. »Klingt das nach dem Nachmittag, den du verbringen möchtest?«
»Ich bin Experte für Toilettenpapier und Waschpulver. Ich könnte dich beraten.«
»Und eine halbe Stunde vor der Kasse im Supermarkt stehen?«
»Liebend gern«, sagte er und berührte die in das Mauerwerk eingelassene Sensorfläche, um den Aufzug zu rufen.
Silya fand die Vorstellung, wie seine Hände ihre Haut berühren würden, durchaus reizvoll. Vielleicht war das gar keine schlechte Idee, den Nachmittag mit ihm zu verbringen.
Patrick schaute sich um. Als er sicher war, dass sie allein waren, legte er einen Arm um ihre Taille. »Du könntest mir bei einem Martini erzählen, wie das genau war, als du diese Koralle aus dem Meer geholt hast. Warst du da wirklich ganz nackt?«
Lachend schüttelte Silya den Kopf. »Die Koralle ist ein Abschiedsgeschenk von einer Freundin in Marseille.«
»Abschied wovon?«
»Wir haben zusammen Meeresbiologie studiert.« Als die Tür des Aufzugs lautlos aufglitt, ging Silya zuerst hinein. »Ich hab’s nach einem Semester aufgegeben.«
»Das ist ... überraschend.«
Silya hielt Patricks Hand fest, gerade als er das Touchscreen antippte, und sie stellte sich dabei auf die Zehenspitzen. »Danke für die Blumen«, flüsterte sie auf seinen Lippen. »Das war wirklich unglaublich süß.«
Die Tür ging hinter ihnen zu. Sie ließ ihre Tasche fallen, ohne an den Laptop zu denken, und das Geräusch von splitterndem Plastik war ihr völlig egal, als sie beide Hände um Patricks Nacken legte und ihren Körper an seinen presste.
Trotz eines hässlichen Risses an der Unterseite des Gehäuses funktionierte der Laptop einwandfrei. Silya überspielte das Foto, das sie am Morgen mit dem Handy aufgenommen hatte, auf die Festplatte und installierte die Margeriten anschließend als Hintergrundbild.
Seufzend stand sie vom Küchentisch auf, um die Einkäufe auszupacken. Birdy lief ihr hinterher und schnupperte an den neuen Stilettos von Francesca Mambrini. Die cremefarbenen Riemchen der Schuhe passten genau zu dem Outfit, das sie am Abend tragen wollte. Lächelnd dachte sie daran, dass Patrick erst nach ungefähr tausend Küssen davon abzuhalten gewesen war, sie zum Shopping zu begleiten. Aber im gegenwärtigen Stadium ihrer Beziehung gab es einige Dinge, die sie lieber allein tun wollte, und der Einkauf in einem Laden für Dessous gehörte ganz entschieden dazu. Wenn sie Patrick in der Nacht eine Gelegenheit geben würde, ihr die Sachen vom Leib zu reißen, war das eine völlig andere Sache.
Jemand klopfte. Kaya, dachte Silya, denn aus irgendeinem ihr unbekannten Grund benutzte die Nachbarin aus der dreizehnten Etage niemals die Klingel. Rasch stellte sie den Milchkarton, den sie gerade in der Hand hielt, in den Kühlschrank und ging an die Wohnungstür, um zu öffnen.
Kaya hatte eine neue Frisur, in die pinke Strähnchen eingefärbt waren, was ganz gut zu ihrem rosa Rennanzug und den gleichfarbigen Laufschuhen passte. »Hey, Sweetie«, sagte sie überschwänglich. »Ich habe dein Auto unten gesehen und dachte, wir könnten den Lauf von heute Morgen nachholen.«
»Gute Idee. Ich muss nur vorher ein paar Sachen in den Kühlschrank räumen.«
Sie gingen in die Küche, wo Kaya zwischen Katzenfutter und Kaffee sofort die Papiertüte von Victoria’s Secret entdeckte. Ungeniert holte sie den neuen BH heraus und schwenkte ihn durch die Luft.
»Der wiegt ja kaum zehn Gramm«, meinte sie. »Ist das Weltraum-Lycra von der NASA, oder was? Und für wen ist der? Für diesen IT-Freak?«
»Nein, für mich. Ich glaube kaum, dass er Patrick passen würde.«
Kaya nahm den zum BH passenden Slip aus der Tüte. »Der flippt sicher aus, wenn er das zu sehen kriegt. Steht er auf rot?«
»Könnte sein.«
»Wie ist er denn so? Die IT-Typen, die ich kenne, sind alle irgendwie ... na ja, eben nicht mein Typ. Hast du ein Foto? Du hast mir übrigens gar nicht erzählt, dass du einen Bruder hast.«
»Wie kommst du darauf, ich hätte einen Bruder?«
»Nicht? Die Alte, die immer mit ihren Katzen spazieren geht, hat mich vorhin bei den Briefkästen vollgequatscht.«
»Frau Novak?«
»Keine Ahnung, wie die heißt. Aber egal. Auf jeden Fall hat sie ihn rein gelassen, weil er seinen Schlüssel vergessen hatte. Irgendwann letzte Nacht.«
»Ich habe keinen Bruder. Aber gut möglich, dass das Patrick war.«
»Wieso?«
»Weil er hier war, um das da für mich zu machen.« Silya deutete auf das Hintergrundbild des Laptops. »Wahrscheinlich musste er Frau Novak eine Geschichte erzählen, um ins Haus zu kommen.«
Kaya warf einen Blick auf das Hintergrundbild. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Dein Patrick ist definitiv keiner von den IT-Typen, die ich kenne.«
»Er ist nicht mein Patrick.«
»Nicht? Ich dachte.«
»Wir haben uns heute geküsst. Eigentlich geht mir das alles aber etwas zu schnell.«
»Er gräbt dich seit einem Monat an, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Klingt nicht unbedingt nach einem Quickie, wenn du mich fragst.«
Silya nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. »Möchtest du etwas trinken?«
»Nein, danke. Aber was möchtest du denn?«
Silya goss Wasser in ein Glas und schaute Kaya dabei fragend an.
»Ich meine, was du von einem Typen erwartest.«
»Die Blumen vor meiner Tür haben mich wirklich beeindruckt. Ich mag es, wenn ein Mann sich Mühe gibt. Aber... « Silya trank langsam ihr Glas aus, um so etwas Zeit zu gewinnen, über die Frage nachzudenken.
»Aber?« fragte Kaya.
»Wie trinke ich meinen Kaffee?«
»Mit viel Milch und zwei Stückchen Zucker.«
»Eben. Patrick hat mir heute einen Kaffee ohne alles gebracht.«
»Tatsächlich?« Kaya schaute Silya belustigt an. Offensichtlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, worauf Silya hinauswollte.
»Wir trinken jeden Tag zusammen Kaffee ... Das klingt völlig bescheuert, ich weiß. Ist es wahrscheinlich auch.«
»Nein, das wollte ich damit nicht sagen, Sweetie. Wenn es sich für dich falsch anfühlt, dann ist es eben falsch.«
Silya räumte das leere Glas in die Spülmaschine. Wenn sie ehrlich war, wusste sie gar nicht, wie es sich anfühlte. Der Job beanspruchte sie so sehr, dass kaum Zeit blieb, um ihr Privatleben zu betrachten. Das war in den letzten Jahren immer so gewesen, eigentlich seit sie die Brücken hinter Marseille abgebrochen und das BWL-Studium begonnen hatte. In dieser Zeit hatte es einige Affären gegeben, belanglos, meist nur von kurzer Dauer, und sicher rührte daher ein Teil der Unsicherheit, die sie spürte, wenn es darum ging, ob sie sich ganz und gar auf Patrick einlassen wollte. Sie hatte diesen Teil des Lebens derart vernachlässigt, dass es ihr nun so vorkam, als gehöre er nicht in ihren Kompetenzbereich. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und Leiterin einer operativen Einheit in einem aufstrebenden Unternehmen. In wenigen Tagen würde sie die BelCanTel Berlin leiten. Sie besaß die Diplome von zwei international renommierten Universitäten. Es lief alles bestens – wenn man mal davon absah, dass sie nicht sagen konnte, ob sie in Patrick verliebt war oder sich bloß wünschte, es zu sein. Er wusste jetzt, wie sie ihren Kaffee mochte, und es war absolut lächerlich, dass sie mentale Ressourcen verschwendete, indem sie weiter darüber nachdachte und ein Problem, das im Grunde keines war, riesengroß werden ließ. Warum ließ sie sich nicht einfach fallen und den Dingen ihren Lauf?
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