»Erstens weil ich Silya nicht zu Tode erschrecken wollte. Und zweitens weil ich eine Mordsangst habe.«
»Wovor?«
»Alle Illusionen zu verlieren. Außerdem ist ihr Büro nicht gerade ein privater Raum. Wenn ich da jetzt reingehe, schauen zwanzig Leute zu.«
»Und wenn schon. Sie wird dir nicht gleich um den Hals fallen.«
»Das weiß ich auch. Aber ich warte trotzdem lieber auf eine Gelegenheit heute Abend.«
»Da werden mehr als tausend Leute sein. Das ist dann natürlich sehr privat.«
Ein Werbespot für eine Autoversicherung unterbrach den Gedankenaustausch. Während David im 30-Sekunden-Takt Anfragen nach Informationsbroschüren abarbeitete, erwischte Franzi einen Kunden, der eine Beschwerde über die Abwicklung eines Versicherungsfalles vorbrachte. Sie erklärte dreimal seelenruhig, er müsse in diesem Fall die Reklamationsabteilung kontaktieren, aber weil er das partout nicht einsehen wollte, legte sie schließlich ziemlich entnervt den virtuellen Hörer auf.
»Weißt du, David«, sagte sie anschließend, »ich kann dein Geschwafel kaum mehr ernst nehmen. Du wirst ihr auch heute Abend nichts sagen.«
»Doch, sicher werde ich das.«
»Wenn du das wirklich wolltest, wärst du nicht vor ihrem Haus eingeschlafen. So etwas Blödes habe ich ja noch nie gehört.«
»Das war einfach Pech.«
»Warum sollte dann ausgerechnet heute Abend das Glück auf deiner Seite sein?« fragte Franzi provozierend. »Kommt Bob nicht auch?«
»Was soll das denn jetzt?«
»Die Frey ist doch genau sein Typ.«
»Blödsinn! Silya ist überhaupt nicht der Typ, auf den er abfährt.«
»Hundertprozentig ist sie das. Sie ist eine Frau ... und er ... Ach, egal.«
David wusste, was Franzi meinte. Bob war ziemlich wahllos, was Frauen betraf, solange sie kein Interesse an einer ernsthaften Beziehung hatten. Es gab nur wenige, die nicht auf seine charmante Art reinfielen. Auch Franzi war in ihn verliebt, aber klug genug, sich nicht auf ihn einzulassen. Wie David kannte sie Bob bereits seit einer halben Ewigkeit.
»Trotzdem ... Bob würde mir das niemals antun. Er weiß, wie wichtig mir die Sache mit Silya ist.«
Franzi verdrehte ihre Augen und streckte die Arme hilflos in die Luft. »Du kapierst es einfach nicht, David. Es ist nämlich völlig egal, ob Bob Interesse an ihr hat oder nicht. Glaubst du vielleicht, Rutter nimmt Rücksicht auf deine Illusionen und wartet ab, bis du in der Realität angekommen bist? Der hat den Champagner längst im Kühlschrank und die Kondome unterm Kopfkissen.«
David starrte sie an. »Gestern hast du gesagt, das sind nur Gerüchte.«
»Ach, David, mach die Augen auf. Hier gibt es hundert Typen wie dich, die die Frey mit ihren Blicken ausziehen.«
Der nächste Werbespot ersparte David eine Antwort. Im Grunde gab es dazu auch nicht mehr viel zu sagen. Er wusste ja, dass Franzi recht hatte.
Nachdem sie in der vergangenen Woche über siebzig Stunden gearbeitet hatte und auch am Sonntag im Büro gewesen war, konnte Silya nun mit einem guten Gewissen den Nachmittag frei nehmen. Sie hatte die lockere Verabredung zum Lunch mit Patrick abgesagt, stattdessen einen Müsliriegel geknabbert und die Akten für Mark Fenninger, den zweiten designierten Geschäftsführer neben ihr, auf den aktuellen Stand gebracht. Nachdem sie ihm einige Dokumente gefaxt hatte, lag nichts mehr auf ihrem Schreibtisch, was nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Bevor sie den PC abschaltete, schaute sie schnell in ihrem E-Mail-Programm nach neuen Nachrichten. In der letzten Stunde hatte Patrick wieder drei Mails gesendet, die Silya hastig las, dann aber genauso unbeantwortet löschte wie die zehn Mails davor. Ihr Arbeitspensum ließ die ständigen Ablenkungen durch seine amüsanten Albernheiten einfach nicht zu. Sie war gespannt, ob ihm weiter die Zeit dafür bliebe, wenn er gleich am ersten Tag nach der Firmenübernahme zu einem Briefing nach Toronto reisen musste. Die entsprechende Arbeitsanweisung war bereits formuliert, das Flugticket geordert, und sie wäre dann sein Boss, nur Kim selbst zur Rechenschaft verpflichtet.
Sie sah dem gemeinsamen Abend mit Patrick gespannt entgegen und hoffte sehr, dass er seinen Humor behielte, wenn sie ihn fragen würde, wie gut sein Englisch sei und ob er koreanisches Essen mochte.
Das Programm zeigte eine neue E-Mail im Posteingang an. Silya wollte endlich los, um ihre Einkäufe zu erledigen, und am liebsten hätte sie die Nachricht ignoriert. Aber nach kurzem Zögern gab sie ihrer professionellen Neugier nach und warf einen Blick auf den Absender. Dass David Blohm ihr schrieb, war ungewöhnlich, da die für das operative Geschäft zuständigen Teamassistenten im Normalfall die richtigen Ansprechpartner waren, wenn die Agents Fragen oder Probleme hatten. Das Wort »Kündigung« in der Betreffzeile deutete zudem auf eine Zuständigkeit der Personalabteilung hin. Seufzend klickte Silya die E-Mail an.
Er teilte ihr mit förmlichen Worten mit, er werde demnächst sein Studium beenden und wünsche einen vorzeitigen Auflösungsvertrag. Können sie haben, Herr Blohm, dachte sie und wollte die Nachricht gleich an die Personalabteilung weiterleiten. Dann überflog sie den kurzen Text aber doch bis zum Ende. Er schlug tatsächlich vor, die Einzelheiten bei einem Glas Wein während des Sommerfestes zu besprechen. Wozu ich absolut keine Lust habe, Herr Blohm, dachte sie und schrieb eine Antwort, in der sie ihn in ihr ins Büro bat. Sie wollte diese Angelegenheit lieber sofort erledigen. Prompt kam eine Mail zurück.
- Sie meinen jetzt?
Silya schaute über den Rand ihres Monitors in das Großraumbüro, wo Blohm am selben Platz saß wie am Tag zuvor. Er und diese Juristin, mit der man ihn immer zusammen sah, drehten beide die Köpfe in ihre Richtung.
- Ja, bitte.
Sie sah, wie Blohm das Headset weglegte. Eigentlich sollten die Einzelheiten, die er angesprochen hatte, in drei Minuten zu klären sein. Wenn das mit den Einkäufen nicht zu lange dauerte, wollte sie den ausgefallen Trainingslauf nachholen und anschließend eine halbe Stunde auf ihrem Balkon relaxen. Damit Blohm gar nicht erst auf den Gedanken kam, sie hätte Zeit für eine gemütliche Plauderei, rollte sie den Bürostuhl zurück, um ihn im Stehen zu begrüßen.
Der Agent und Patrick wären fast vor ihrer Tür zusammen gestoßen, als sie aus verschiedenen Richtungen aufeinander zugingen. Patrick trug zwei Kaffeebecher, die überschwappten, als er Blohm im letzten Moment auswich.
»Herrgott!«, blaffte er ihn an. »Sie schon wieder! Können Sie nicht aufpassen?«
»Sorry, ich hab Sie nicht gesehen.«
»Bin ich aus Luft, oder was?«
»Zum Glück tragen Sie ja heute einen dunklen Anzug. Da sieht man die Flecken nicht so.«
Silya wich einen Schritt zurück, als Patrick die tropfenden Becher auf ihrem Schreibtisch abstellte.
»Ich weiß wirklich nicht, ob der Typ frech ist oder einfach nur dumm«, murmelte er leise.
»Der Typ hat das gehört«, sagte Blohm. »Der Typ stellt sich außerdem gerade die Frage, ob er die Aussage der Führungskraft als Beleidigung verstehen soll und dieses Gespräch in Anwesenheit seines Gewerkschaftsvertreters fortführen möchte.«
Innerlich aufstöhnend sah Silya ihren freien Nachmittag dahinschwinden. Der erste Eindruck, den sie von Blohm am Tag zuvor erhalten hatte, war wie weggewischt. Er konnte tatsächlich Sätze mit mehr als drei Wörtern fehlerfrei sprechen.
»Jetzt beruhigen wir uns mal alle wieder!« sagte sie energisch. »Ich bin schon so gut wie auf dem Weg nach Hause und werde wegen dieser Lappalie keine Minute länger bleiben. Wir sind hier schließlich nicht im Kindergarten. Nicht wahr, Herr Rutter?«
Patrick murmelte zähneknirschend etwas, das mit viel guten Willen als Entschuldigung für seine unbedachte Äußerung verstanden werden konnte. Lächelnd holte Silya aus der Schublade des Schreibtisches eine Schachtel Papiertücher, die sie ihm reichte.
Читать дальше