»Ja, das stimmt«, antworte ich. »Sie entschuldigen mich kurz? Ich muss mal telefonieren.«
»Natürlich«, antwortet Frau Christensen. Ihr Mann nickt mir ebenfalls zu.
Ich erhebe mich und verlasse den Tisch. Mir lässt die Sache mit Alfredo und Klara einfach keine Ruhe. Erst, wenn ich weiß, dass alles in Ordnung ist, kann ich mich auf das Gespräch konzentrieren. Bei dem Termin geht es um viel. Die Christensens leben in Spanien und sind auf der Suche nach Hotels, in denen sie ihre Kurse abhalten können. Es handelt sich um Motivationsseminare. So richtig verstanden habe ich es ehrlich gesagt noch nicht, aber das Ehepaar Christensen war gerade dabei, mir ihr Konzept ausführlich zu erklären. Meiner Meinung nach ist es alles viel zu detailliert. Mich interessiert nur, ob mein Hotel für sie infrage kommt und ob es sich um seriöse Seminare handelt.
Es klingelt ein Mal, zwei Mal, drei Mal, dann geht Klara endlich ans Telefon. »Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
»Bitte? Wer ist denn da?«, fragt sie irritiert.
»Miguel. Ich wollte wissen, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist.«
Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen.
»Hallo?«, rufe ich in den Hörer.
»Ja, zumindest mit Carlotta. Alfredo ist ins Haus gerannt, als ich ihn angesprochen habe. Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was ich mit ihm machen soll. Ob es Sinn macht, zu ihm zu gehen und mit ihm zu reden?«
»Das tut mir leid! Ich weiß auch nicht, warum er sich seit ein paar Tagen so komisch verhält.«
Er vermisst nur seine Mutter so schrecklich , füge ich gedanklich hinzu. Laut möchte ich es nicht aussprechen.
»Hm.«
»Schaffen Sie es oder brauchen Sie Hilfe?«
»Keine Ahnung.«
»Soll ich Pedro anrufen? Er hat eigentlich einen guten Draht zu Alfi. Um diese Zeit müsste er auch Feierabend haben.«
»Nein, nein. Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Ich werde es schaffen.«
»Sicher?«
»Ja, ich denke schon.«
»Wenn etwas ist, melden Sie sich Klara, ja?«
»Ja, das mache ich. Bis dann!«
Als Klara aufgelegt hat, starre ich einige Sekunden mein Handy an. Ich überlege, ob ich Pedro nicht doch vorbeischicken soll, nur für alle Fälle. Auch wenn Klara gesagt hat, es wäre unnötig, hätte ich ein besseres Gefühl. Ihr Nein auf meine Frage kam sowieso viel zu unüberlegt.
Ich wähle Pedros Nummer. Es klingelt ein Mal, bevor er am Apparat ist. »Mig, mein Freund! Was gibt es denn?«
»Hast du Zeit?«
»Heute ist es eigentlich schlecht. Ich …«
»Bitte!«
»Worum geht es denn?«
»Könntest du vielleicht kurz zu mir fahren und nach dem Rechten schauen?«
»Wieso?«
»Klara ist bei den Kindern. Alfi verhält sich seit ein paar Tagen so ko…«
»Alles klar, ich bin auf dem Weg«, höre ich Pedro sagen, bevor es klick macht und er einfach aufgelegt hat.
»Was war das denn?«, frage ich mich kopfschüttelnd und gehe kurz darauf zurück zu Familie Christensen.
Da Klara nun von Pedro unterstützt wird, geht es mir gleich viel besser.
»Danke«, flüstere ich Carlotta zu, die mir gezeigt hat, wo sich Alfredos Zimmer befindet. Zaghaft klopfe ich an die Tür. Wie erwartet, erhalte ich keine Reaktion von dem Jungen. »Meinst du, ich soll einfach reingehen?«, frage ich die Kleine, die neben mir steht und wartet.
»Ja«, flüstert sie.
»Gut, ich gehe aber alleine, okay? Und du wartest hier?«
Sie nickt mir zu und lehnt sich gegen die Wand.
Ich atme ein letztes Mal tief ein, bevor ich die Tür öffne, hindurchschlüpfe und sie hinter mir wieder schließe.
Alfredo liegt auf seinem Bett und starrt an die Decke.
»Darf ich?«, frage ich und deute auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Wie erwartet, erhalte ich nur ein Achselzucken als Antwort.
Ich ziehe den Stuhl zu ihm ans Bett und setze mich.
Hat er jetzt die Augen verdreht oder habe ich mir das nur eingebildet?
Ich traue mich nicht, ihn danach zu fragen, bin mir aber sicher, es war eine Einbildung.
Schweigend sitze ich neben seinem Bett.
»W-Warum können wir keine Freunde werden? Ich will dir doch nichts Böses!«, flüstere ich nach einer Weile.
Er schaut mich ungläubig an. Das erste Mal, seit ich ihn kenne, sieht er mir direkt in die Augen.
»Du brauchst nicht wieder weglaufen!«
Sein Gesichtsausdruck ändert sich in Verwunderung.
Mutig lege ich meine Hand auf seine und sage: »Ich weiß, du vermisst deine Mama. Ich kenne das Gefühl, wenn jemand, den man ganz doll lieb hat, für immer weg ist.« Bei dem letzten Satz denke ich an Fred, es bilden sich Tränen in meinen Augen. »Das tut furchtbar weh und man hat Angst, dass jederzeit wieder ein Mensch einfach so verschwindet, man ihn nie wiedersehen kann. Doch weißt du, wenn man sich ständig fürchtet, hat man keine Zeit mehr zum Leben.«
Alfredo schaut mich neugierig an. Er scheint über meine Worte nachzudenken, bleibt aber still.
»Niemand kann dir versprechen für immer da zu sein«, setze ich nach. »Das Leben ist so ungerecht. Menschen müssen gehen, ob sie wollen oder nicht. Ich bin mir sicher, eure Mama wäre hier bei euch geblieben, wenn sie es sich hätte aussuchen können. Sie konnte nichts dagegen tun!«
Nun hat auch Alfredo feuchte Augen.
Oder bilde ich mir das etwa ein?
»Man muss jede Sekunde mit den Menschen, die man gern hat, genießen, ihnen sagen, wie sehr man sie lieb hat. Sonst ist es dafür irgendwann zu spät.«
»Das Leben ist scheiße«, schluchzt Alfredo.
Ich lasse mir meine Verwunderung über die ersten Worte, die er mit mir gewechselt hat, nicht anmerken. Stattdessen tue ich so, als wäre alles ganz normal. »Ich weiß«, flüstere ich und drücke seine Hand fester.
Bevor ich mich versehe, erhebt er sich und fällt mir um den Hals. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, das Atmen zu vergessen. Doch dann erwidere ich seine Umarmung, so als sei es das Normalste von der Welt und tätschle ihm den Kopf. »Scht.«
»Gehst du wieder weg?«, fragt er nach einer Weile.
»Erst mal nicht«, antworte ich unbeholfen.
»Aber später!«, sagt er. In seiner Stimme ist Wut zu hören. Er will sich von mir lösen, doch ich halte ihn fest.
»Du weißt doch bestimmt, dass ich in Deutschland ein Haus habe. Irgendwann muss ich zurück, aber ich verspreche dir, wir bleiben für immer Freunde, solange wir leben. Und so weit weg ist Deutschland nicht, wir können uns gegenseitig besuchen kommen.«
Seine Versuche, sich aus meiner Umklammerung zu lösen, schwächen ab. Er schluchzt erneut. »Versprochen?«
»Ja, ganz fest versprochen.«
Er nickt.
»So und nun mache ich euch etwas zu essen.« Dieses Mal scheitert mein Versuch, mich von Alfredo zu lösen. Er hält mich fest umklammert. Statt es weiterzuversuchen, lasse ich ihn gewähren. Ich bin so froh, dass er überhaupt mit mir spricht. Da kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht an.
»Es hat geklingelt. Jetzt musst du mich kurz loslassen«, erkläre ich schmunzelnd.
Als der Junge immer noch keine Anstalten macht, mich gehen zu lassen, sage ich: »Dann musst du eben mitkommen. Gib mir deine Hand!«
Das lässt er sich nicht zwei Mal sagen. Gemeinsam verlassen wir sein Zimmer und stoßen auf dem Flur fast mit Carlotta zusammen, die gerade auf dem Weg zur Haustür ist.
»Carlotta, warte!«, rufe ich ihr nach.
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