Nicht etwa auf Verladebahnhöfe des Tauschhandels, sondern auf die Schaltzentralen politischer Macht hatten sie es abgesehen. Schon ihre Bier lallende Präsenz im Halbrund des Saales verriet ausladende knorrige, patriarchale Züge. Ihre Sprache lebte von kaltschnäuzigen Tönen und wegwischender Verachtung politischer Konkurrenten. Als Mitglied der Jungdemokaten (djd), sogenannter Abgesandter der jungen Generation, durfte ich in diese FDP-Gesichter im Kreise gucken einmal, zweimal, dreimal – dann nicht mehr. Aha-Bekanntschaften. „Gelobt sei, was hart macht“, dachte ich mir. Das war seinerzeit ein Bundeswehr-Leitmotiv, das ich mir auch als Kriegsdienstverweigerer zu merken hatte – notgedrungen. Alt-Herren-Liberalen.
Im übertragenen Sinne waren es ja unsere Väter, unsere politischen Väter, die sich da in den Ratskellern der Republik im Halbdunkel verschanzten. Ich blickte abwartend in das zerfurchte und verlebte Antlitz des FDP-Matadors dem Landtagsabgeordneten Erich Konrad (*1910+1987). Er war kein irgendjemand, er war ein in den fünfziger Jahren einflussreicher Senator 63dieses Ortes, ein Strippenzieher. auch Vorsitzender des Schlachthof-Ausschusses in Osnabrück.
Erich Konrad , der im Polizeibataillon 101 im August 1941 das Getto im polnischen Lodz errichtet hatte. Er, der im Jahre 1944 als Sturmbandführer, das entspricht einem Major der Wehrmacht, in das Führerkorps der Schutzstaffel der NSDAP aufgenommen wurde. Allseits akzeptiert, bewundert. Er hatte sich nicht zu rechtfertigen, in Partei und Öffentlichkeit zu erklären. Jede Frage nach seiner Vergangenheit glich einer persönlichen Beleidigung, Verunglimpfung seiner Person. Diskussion verpönt. Leitfiguren.
Vis-à-vis hockte Konrads zugereister niedersächsischer Landtagskollege Gustav Ernst (*1914+1999) aus Braunschweig, als „Gustav Pattje-Fuss“ verniedlicht . Welcher Zufall im Plenarsaal des niedersächsischen Parlaments tuschelten die Herren Parlamentarier emsig, ihm, dem „ Pattje-Fuss“ eine Rolle vom dänischen Komiker Duo Pat & Patachon aus der Stummfilmzeit zuzuweisen. Des Abends in den Kneipen gerierten sie sich als Opfer, als Verführte der Nazi-Zeit. Selbstmitleid. Dabei einte sie ihre braune Vergangenheit als unbarmherzige Väter-Täter.
Auch Ernst hatte in Hitler-Jugend und Partei als hoher Funktionär Schleifspuren angelegt. Sie einte auch gleichsam ihre Zukunft, ihre Gestaltungskraft: nämlich ausgerechnet diese erste von der braunen Vergangenheit unbelastete, frech daherkommende junge Generation aus den politischen Gremien fern zu halten. Sie, die Aufmüpfigen in späteren Jahren als Feinde der Verfassung 64durch Parteiausschluss aus der FDP verschwinden – über die Berufsverbote in den siebziger Jahren brandmarken zu lassen. Freiheit in Deutschland. Sendungsbewusstsein. Leitfiguren verflogener Epochen.
Ob die Politiker Konrad oder Ernst – nicht nur diese Provinz-Figuren der Zeitgeschichte waren in ihren Köpfen, in ihrem Denken und Verhalten noch immer in den Schützengräben unrühmlicher Dekaden des Krieges. Sie wollten partout nichts dazu lernen, keine Erkenntnisprozesse, keine Reue, keine Reflektion, keine Nachdenklichkeit. Trotz, Selbstbehauptung, Bockigkeit waren die Charakter-Merkmale jener Väter-Täter. Nichts kennzeichnet die geistige Verwirrung, ja die Restauration des Landes besser als ausgerechnet ihre unentwegte, ungefragte Bereitschaft, die „wehrhafte Demokratie“ zu verteidigen.
Wer hatte sie gerufen, diese selbst ernannten Verteidiger der Freiheit? Gegen wen wollten sie, die einstigen Nazi-Täter, ihre Freiheiten geschützt wissen? Stand die parlamentarische Demokratie auf dem Spiel? Nein. Musste in der Bundesrepublik gar ein Umsturz befürchtet werden? – Nein. Es waren die Knüppel mit Totschlag-Argumenten weitestgehend gegen eine lästige, hinterfragende Jugend, oft links von SPD und FDP. Gesellschaftliche Ausgrenzungsversuche. Wie charakterisierte der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (*1908+1984) 65die Gemüts- und Erkenntnisfähigkeit, den Verdrängungszustand schlechthin. in den sechziger Jahren:
„Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung, vollzog sich eine explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Wertigkeit und Erfolg verdeckten bald offene Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo aufgebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten. Das trifft nicht nur auf die Häuser, sondern gleichfalls auch für den Lehrstoff an unseren Schulen, für die Rechtsprechung und für die Gemeindeverwaltungen zu. Die politische Routine, die sich immer mehr in ein spanisches Zeremoniell des Proporzes hinein entwickelt, bringt kaum originelle Versuche, produktive Phantasien in die politischen Gegebenheiten wirksam werden zu lassen.“
Wenige Monate stand ich mit vielen Hunderten Gleichgesinnten in der Halle Gartlage in Osnabrück klatschend auf den Stühlen. Damals dichtete und sang der Protest-Barde und APO-Anwalt Franz-Josef Degenhardt (*1931+2011): „Nun wisst ihr es. Uns ist es nicht genug, in jedem vierten Jahr ein Kreuz zu malen. Wir rechnen nach und nennen es Betrug, wenn es gar keine Wahl gibt bei den Wahlen.“
Dessen ungeachtet hatte der langen Marsch durch Institutionen, Gremien und Ämter auch für mich begonnen. Es war ein Aufbruch ohne Ankunft, Abend für Abend für Liberalen Schülerbund und Deutsche Jungdemokraten auf Podien und Diskussionsveranstaltungen. Dort in verlassenen, in sich gekehrten, dahin schlummernden niedersächsischen Provinzen. Angekommen bin ich nirgendwo, weitergezogen bis heute – immer und immer wieder.
Dabei wollte ich raus aus den eng empfundenen Quadraten in ländlicher Umgebung, raus aus dem Neoproletarier Mief jener niedersächsischen Autostädte, die sich mit dem VW-Initial schmückten. „Warum bleibe ich in dieser Provinz“, fragte ich mich? Demos in Berlin, Hamburg, Frankfurt oder auch Amsterdam gab es hinlänglich. „Warum kam ich nicht los vom sogenannten „Dumpfbackentum“. Dort, wo hinter Butzenscheiben und Fachwerkfassaden, der altdeutschen Heimeligkeiten, so manche Misthaufen versteckt wurden, die niemand zu lüften gedachte. Wollte ich mich nicht ein für alle Mal verabschieden von Adjektiven, die mit Eigenschaften wie „weltfremd, dörflich, kleinbürgerlich wie spießbürgerlich“ an mir hefteten; ein miefiger Stallgeruch, der nicht weichen wollte.
Und nun das, Hinwendung zu ausgerechnet dieser ehedem bespöttelten Provinz. Kehrtwende? Was faszinierte mich denn da an ausgemergelten deutschen Provinzen? Zu Menschen in Ländern, die damals intellektuell ausgegrenzt, belächelt wurden, nicht en vogue waren, sich ignorant gaben? Sie waren es ja auch, die hinlänglich den Verdacht kultivierten, einer Remythisierung oder auch neuerliche deutsche Nationalisierung durch den damaligen NPD-Vorsitzenden Adolf von Thadden (*1921+1996) gehörig Vorschub zu leisten.
Es zog mich dorthin, wo die moderne linke Bewegung, die studentische Avantgarde der Außerparlamentarischen Opposition bislang noch nicht vorbeigeschaut hatte weder durch Demonstrationen noch durch Teach-ins. Ich schien wieder hier angekommen zu sein, woher ich kam. Ein Provinzler aus deutschen Landen zwischen Kühen, Stoppelfelder, Waldwegen und Baggerseen; vielleicht auch bei dem Italiener oder Griechen zum Abendessen auf Marktplätzen. Genauer gesagt zwischen Harz und Nordsee, wo fünfmal so viele Hühner wie Menschen (fünf Millionen) lebten. „Sturmfest, erdverwachsen sind die Niedersachsen …“, so lautet der Refrain der vom Komponisten Hermann Grote (*1885+1934) vertonten Welfenhymne.
Aufklärung war nun einmal der zentrale Begriff meines Denkens, der mich fortan faszinierte. Ein Zitat des Philosophen Immanuel Kant (*1724+1804) schmückte über Jahre mein Bücherregal. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus einer selbst verschuldeten Unmündigkeit.“
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