Reimar Oltmanns
Keine Zeit für Wut und Tränen
Das Fremde wird nah, die Nähe fremd romanhafte Autobiografie
Copyright: © 2017 Reimar Oltmanns
Lektorat: Helga Möller-Tallay
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN: 978-3-7450-0420-5
Printed in Germany
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„Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“
Johann Wolfgang von Goethe (*1749+1832)
„Der vernünftige Autor scheibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heißt für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude zu haben.“
Friedrich Nietzsche (*1844+1900)
Für Helga
Reimar Oltmanns, 1949 in Schöningen/Helmstedt geboren,
lebt als Autor in Aukrug/Schleswig-Holstein. Er war Pressesprecher im Niedersächsischen Kultusministerium, schrieb über zwei
Jahrzehnte Reportagen für die Frankfurter Rundschau, Stern,
Spiegel und Die Zeit. Er berichtete aus Südamerika, Afrika, Asien,
Osteuropa. In Italien und Frankreich verfasste er Reise-Skizzen.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen u.a. „Die Würde des Menschen
- Folter in unserer Zeit“ – „Du hast keine Chance, aber nutze sie.
Eine Jugend steigt aus“ – „Möllemänner oder die opportunistischen
Liberalen“ – „Keine normale Figur in der Hütte - Reportagen zur
Wendezeit“ - „Vive la française - Die stille Revolution der Frauen
in Frankreich“.
Furcht vor dem Nichts – Versuch eines Vorworts
Das sein zu wollen, was ich bin, ist die einzige Freiheit, die mir bleibt.
Jean-Paul Sartre
(*1905+1980) französischer Philosoph
Mit Notizen und Skizzen für dieses Buch begann ich dort, wo das Leben gemeinhin aufhört – auf dem Todesacker meiner niedersächsischen Heimatstadt zu Schöningen; einem Städtchen im Braunschweiger Land am Osthang des Buchenwaldes Elm gelegen. Jener kleine Friedhof ist die beschaulich anmutigende Heimstatt verstorbener Frauen und Männer – sinnlos gefallener Soldaten vieler Länder beider Weltkriege.
Als junger Bub zupfte ich Sonntag für Sonntag Unkraut auf diesen Totenquadraten der Verwandten und Anverwandten. Dabei mochte ich den Gedanken an den Tod ganz und gar nicht, fürchtete mich. Ein Abschied für immer – nein niemals. Ich mied nach Möglichkeit auch jene Begleiterscheinungen, die sich gemeinhin mit dem Lebensende verknüpften – Krankenhäuser, Leichenwagen, Friedhöfe, Särge, schwarz in schwarz gekleidete Menschen mit Hüten und Zylinder. Gleichwohl befreite ich nahezu jeden Sonntag die kleinen Grabfelder vom all gegenwärtigen Löwenzahn, Blumenbeete vom erdrückenden Moos. Das war so üblich in meiner Kindheit. Der Sonntag gehörte dem akkuraten Spaziergang zu den Toten. Ich weinte viel vor der Marmorplatte meines Großvaters. Ich konnte es nicht verstehen, einfach nicht begreifen, warum er so plötzlich von uns gegangen ist.
Ich fühle es heute noch, kann es nachempfinden, wie damals Krähenschreie eine innewohnende Ruhe aufstöberten und dem Friedhof seine schweigsame Unendlichkeit nahm. Verrottetes Laub glitschte unter meinen Füssen. Unachtsam, wie ich damals als Kind war, fiel ich mit meiner Gießkanne immer wieder hin, schlug mir die Knie auf. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass selbst dieser verwunschene Friedhofs-Platz endlich, alles vergänglich ist – selbst die Erinnerung an meinen Großvater. Sein Grab gibt es schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Nur an diesem Sonntag ist es mucksmäuschenstill, Eichhörnchen hüpfen geschwind von Baum zu Baum oder suchen auf den Wegen nach Futter.
Vis-à-vis der Gräber auf der Müller-Mühlenbein-Straße gab es seit kurzem den Minimal-Markt zur Vollversorgung, 1200 Quadratmeter groß versteht sich. Mit der üppigen Vollversorgung kam auch eine Bushaltestelle. Endstation Friedhof. Das schien mustergültig der alten Menschen wegen. Die Leute konnten sich getrost ihre Taschen und Plastiksäcke vollstopfen, gar einen Blick auf die Andachtskapelle riskieren, an ihren Gräbern verweilen. Nur die Zubringerbusse brachten keine Kunden, kein Geld in die Kassen. Friedhofsbesucher blieben auch im Supermarkt weitestgehend unter sich.
Die opulente, flinke Margret Hersel , vom Stammpublikum „Püppi“ genannt, zählte 35 Jahre, als sie sich am Wurst-Tresen ihr Zubrot verdiente. Gutmütig schaut sie drein. Ein Hoffnungsschimmer. Endlich eine Anstellung nach Monaten der Arbeitslosigkeit. Sie wollte schon immer in ihrem Leben abwiegen, einpacken, Geld wechseln, den treuen Kunden aufmerksam einen schönen Tag wünschen. Sie wurde unehelich geboren, Vater unbekannt. Aufgewachsen bei Pflegeeltern. Sie geht zur Hauptschule. Sie beginnt eine Lehre als Einzelhandelskauffrau. Wird entlassen. Kriegt ein Kind von einem Coca-Cola-Betriebsfahrer. Schützenverein. Spielmannszug. Uniform. Wird geschlagen. Wird geschieden. Wird entlassen – aus dem Minimal-Vollversorgungsmarkt gleich gegenüber dem Friedhof.
Margret – ein Dasein in Deutschland. Das Scheitern ist das offenbar Wesentlichste an ihrem Leben. Viele, unzählig Viele scheitern in jener ehedem seit jeher beargwöhnten, nahezu entvölkerten BRD-DDR-Region, die sich im Nachkriegs-Deutschland Zonenrand nannte. Weggucken. Schweigen, für lokale Chronisten nicht einmal eine Fußnote wert.
Ihr Nachbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Supermarkt war nun einmal der Friedhof – der Tod. Oft in unwirtlichen Wintermonaten pfeift ein eisiger Wind ins dünne Baumgehölz. Irgendwann hatten Anwohner die Wurstverkäuferin noch einmal gesehen – dieses Mal vor dem Supermarkt. Irgendwann, wird sich Margret Hersel beruhigend gesagt haben, hier muss jeder über kurz oder lang durchs Portal, durchs Friedhofsportal.
Der letzte Pfad zum Friedhof ist in Schöningen ein sehr deutscher Ort – vielleicht ein bisschen ausgerichtet nach einem Leben zwischen Sehnsucht und Selbsttäuschung. Der Tod scheint ein privilegierter Partner der Kontingenz zu sein. Zeit und Zufall vereinen sich. Die Zeit wird zeitlos, auch der Augenblick, an dem das Zeit-Ende in die Ewigkeit springt. Ihren Groll gegen die Welt hat Verkäuferin Margret offenbar still mit unter die Erde genommen. Das kleine Holzkreuz signalisiert: „unvergessen“, mehr auch nicht. Birken wie Eichen spenden Schatten, stehen Spalier.
In den letzten Jahren wuchs in mir das Bedürfnis, in den Sommermonaten immer wieder am Eingang vor der Friedhofskapelle die Nähe und ein präzises Erinnern zu längst entschwundenen Menschen zu suchen. Stille, Ruhe – welch ein Luxus, kein Geschrei, keine abgehackten, schnelllebigen Bewegungen, keine hastig verschluckten Halbsätze. Zu sich in weitläufigen Silhouetten über den Gräbern selber zu finden, sich zu spüren, sich neu zu entdecken – es sind Augenblicke der Selbstvergessenheit im Meer der Toten. Stille. Sigmund Freud 1hat solche kurzen Zeitspannen als „wunschlose Glückseligkeit“ beschrieben. Es ist demnach das „reine Sein, ohne dass unaufhörlich Gedanken durch den Kopf jagen, fließen …
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