Immerhin: bemerkbar hatte ich mich schon gemacht, gestört, dazwischengeredet, Mahlzeiten verweigert – mit niemandem mehr gesprochen, das wochenlang. Ganz plötzlich wurde ich von einem Tag zum anderen als sichtlich „behinderter Querulant“ mit Wahnanwandlungen abgeholt; eingeliefert in die Psychiatrie der Westfälischen Kliniken zu Gütersloh, Hermann-Simon-Straße 7. Mutters Meinung hatte sich durchgesetzt. „Mein Reden ist seit langem“, äußerte sie sich auch ungefragt, „der Junge ist nicht ganz normal. Ist wohl bei der Geburt was schiefgelaufen. Zu lange hatte sich wohl die Nabelschnur um Brust und Hals geschlungen. Mit Schulterriemen kam er auf die Welt. Und die 40 Grad Fieber wollten und wollten nicht runtergehen.“ Punktum.
Als ich die Gemischte Gruppe III mit zwölf Jahren verlassen musste, intonierten Erzieherinnen mit Kindern: „Befiehl du deine Wege … Mach End‘ o Herr mach Ende an aller unser Not.“ ( Paul Gerhardt *1607+1676). Wenigstens durfte ich ein Köfferchen mit Spielsachen und meinem Lieblingsbuch „Locke und die Fußballstiefel“ mitnehmen.
In Gütersloh auf dem Areal des weitläufigen Krankenhaus-Komplexes mit Hunderten behinderter Menschen lag ich in einer Schlafhalle, die mich an einen Bahnhofs-Warte-Saal erinnerte; mit zwanzig bis fünfundzwanzig angeblich seelisch in ihrer Geistesverfassung gestörten Kindern. Gleißende Neonröhren und weiße Kittel kreisten unablässig über unseren Augen – Nacht für Nacht, acht Wochen lang.
Als ich Jahrzehnte später den russischen General und Dissidenten Pjotr Grigorenko (*1907+1987) 28in der Moskauer Psychiatrie des Serbskij-Instituts besuchte, fühlte ich mich schon von Atmosphäre wie Räumlichkeit her an die Absonderlichkeiten bundesdeutscher Kinder-Betreuungen erinnert. Eine mit weißen Metallstangen geschmückte Pritsche mit der Nummer 24 war das einzige, was mir in Gütersloh blieb. Versuchsanstalt für Medikamenten-Evaluierung oder Irrenhaus? So genau wollte das wohl niemand eigentlich wissen. Hier ging es ums Überleben.
Wieder waren es starke Tranquilizer namens Megaphen- und Belladenal-
Tabletten 29die meine vermeintliche „seelisch-nervöse Übererregtheit“ lindern sollten. Ruhig wurde ich gestellt. Und das bereits seit meinem achten Lebensjahr. Nur die Megaphen-Tropfen, auch in der Überdosis, wollten nicht helfen. Ich harrte mit trüben, hospitalisierten Betten-Blicken wie bestellt und nicht abgeholt der Dinge, die da kommen sollten. bestellt und nicht abholt. Im erkalteten Irrenhaus. Heilanstalt.
Auf der Kopfrückseite meines Bettes waren auf angeklebten Zetteln die Nummern von 1 bis 6 aufgezeichnet. Sie gaben Auskunft darüber, mit welcher Schulnote Krankenpfleger meinen allmorgendlichen Bettenbau zensierten. Nicht mal meinen Zeichenblock hatte ich mitnehmen dürfen. Die Fenster waren sehr hoch und vergittert, die Türen verschlossen, Steinfußböden, angefressene, demolierte Tische und Stühle, Plastik Geschirr und Besteck, keine Musik, kein Gesang, kaum Gespräche – Kindergefängnis. Kein Blick auf Bäume oder Landschaften – nur Gitter, nur ewig die ängstlich wahrgenommenen Herren in weißen Kitteln – morgens, mittags, abends immerfort die weißen Kittel. Untersuchungen über Untersuchungen, Geräte-Medizin, ärztliche Befragungen, schriftliche Tests – acht Wochen sind kein Tag.
Hinter diesen Stahlrohr-Verhauen lernte ich Edgar kennen. Er war mal gerade elf Jahre alt geworden, kam aus dem benachbarten Bielefeld. Einzelkind – unehelich. Mutter berufstätig. Keine Zeit. Edgar war von schmächtiger Gestalt mit wieselflinken Augen, wich nicht mehr von meiner Seite, wollte immer spielen, wo nichts spielerisch war. Kontakt nach Hause hatte er keinen, kein Brief, kein Päckchen, keine Süßigkeiten. Über Jahre. Freunde wurden wir. Edgar wusste zu erzählen, kannte viele Geschichten. Wenn da nicht gewisse Wörter, wie „Ficker“, „Scheißer“, „Arschficker“, „Fotze“ gewesen wären, die fortlaufend über seine Lippen huschten, Sätze wie Gedanken unterbrachen, Zuhörer schockierten.
Edgar litt unter einem Kurzschluss im Gehirn, auch Tourette-Krankheit
genannt. Tourette 30das ist die Krankheit der Tics. Es ist eine neurologische Erkrankung, ein Rätsel der Medizin. Die Ursachen waren nur ungenau zu bestimmen. Vermutungen gingen von Störungen im Gehirnstoffwechsel oder einer Genmutation aus. Jedenfalls galt die Tourette-Krankheit zu jener Zeit der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als unheilbar. Zwänge wie bellen, grunzen, zwinkern oder auch mit dem Kopf Fensterscheiben einzudrücken – das waren oft ständige Lebensumstände. Ratlosigkeit. Achselzucken. Edgar verschwand über Jahre in der Jugend-Psychiatrie, sein zu Hause. Keiner wusste mit ihm etwas anzufangen, keiner hörte ihm zu. – Endstation eines jungen Lebens.
Nur einmal hatte ich Besuch: dreieinhalb Stunden – die Mutter. Ihre Kleidung war aufwendig-extravagant, als müsse sie als weit gereiste Madame vor Ärzten in der Psychiatrie ihre Intaktheit unter Beweis stellen. Bedächtig fütterte sie Schwäne im angrenzenden Stadtpark, redete beim kleinen Spaziergang wenig mit mir. Sie schaute versonnen ans gegenüberliegende Ufer, in dem sich die Nachmittagssonne spiegelte.
Kaum war ich in Emden geräuschlos aussortiert worden, da kündigte sich beim Zollwachtmeister Nachwuchs an. Arier-Nachwuchs von strammen blonden wie blauäugigen Mädchen. Endlich. Das wollte die schwangere Frau mir sagen. Mehr nicht. Plätzchen, Kuchen – Ende der Visite. Ihr Zug fuhr pünktlich, Gleis sieben gen Norden.
Ich verkroch mich in dieser Nacht zum ersten Mal unter Schwester Erikas Bettdecke. Sie hatte sich schon an den Abenden zuvor häufiger an mein Bett gesetzt und mich immer wieder geküsst. – Nachtdienst. Gut sah sie aus, besagte Schwester Erika, zärtlich war sie mit ihren umschließenden Lippen. Reimar war gerade 13 Jahre alt geworden.
Mit dem Nacht-Express nach Ostfriesland nahm Frau Mutter aber auch die einhellige, unliebsame Expertise meiner Klinik- Ärzte mit: von einer, auch von ihr stets behaupteten geistigen Beeinträchtigung könne nachweislich nicht ausgegangen werden, ganz im Gegenteil.
Hellwach sei ich, ausgestattet mit einem schnellen Denk- und Erinnerungsvermögen. Es wäre daher höchstwahrscheinlich, dass die nächtlichen Angst-Exzesse auf zerrütteten, desolaten Familien- Zustände, Gewalt-Einwirkungen zurück zu führen sind. Ein weiterer Heimaufenthalt, somit die räumliche Trennung vom Elternhaus, sei dringend geboten. Eine höhere Schulbildung sei erfolgsversprechend. Ruhiger Umgang in einer gedeihlichen Atmosphäre sei anzuraten, würden Ängste wie Unruhemomente verschwinden lassen.
Flugs war ich abermals unverhofft bei denen, die mich gerade erst weggeschickt hatten: im Haus Neuer Kamp zu Osnabrück. Sicherlich, verlautbarte es auf einmal da, der Junge sei wohl schon intelligent, vielleicht reiche es ja doch bis zum Angestellten eines Reisebüros, zu mehr aber keinesfalls. Da wäre das Ende der Fahnenstange erreicht. Mittlere Begabung. Punktum. Das will der Hauspsychologe Oskar Meseck wasserdicht durch seine Explorationen eruiert haben.
Von Routine getragen waren die Psychologen-Blicke. Nur die Zahlenwerte zum Intelligenzquotienten, die er feinsäuberlich zu notieren gedachte, die stimmten summa summarum nicht. Zettelwirtschaft. Was eine fundierte psychologische Einschätzung angeblich so diffizil erschienen ließ , Reimar sei einfach nicht auszumachen, mal lebhaft, mal zurückgezogen, einfach schwer zu kalkulieren seien seine Vorteile und Nachteile. Unsicherheiten eines Anfängers, der im öffentlich stattlichen Gebaren über jeden Zweifel erhaben war. Paradoxien meiner Kindheit. Weichenstellungen: die mich loswerden wollten, sie hatten mich nunmehr fortan wieder. Mich schützte das zweifelsfrei höher zu bewertende Psychiatrie-Gutachten aus der Klinik in Gütersloh. – Hoffnung.
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