Nur an Wochenenden wurde es auf den Fluren des Zolls mucksmäuschenstill. Das war die Stunde des Wachtmeisters – Connys Zeit oder auch Hitlers Wunschkonzert. Es hallte höllisch auf den Gängen, wenn der Wachtmeister mit Naziliedern der Gegenwart trotzte. Da lag er nicht nur mit der Pest vor Madagaskar. Auch formierte er mit seinen „Brüdern die Kolonnen“ an den Frontabschnitten oder bejubelte den „schönen Westerwald“. Nein, „Antje mein blondes Kind“ stellte er singend die Frage, „was ist der Tod, wo unsere Fahne weht?“ Sehnsucht nach Hitler.
Wenn Wachtmeister Conny von Hitler sprach, sprach er mit tiefempfundener Rührung von einer großen epochalen Zeit, in die er, ausgerechnet er, der Conny, hineingeboren worden war. Ein feuchter Film verdichtete ganz plötzlich unvermutet seine Netzhäute. Er war eben doch nicht der ewige Popanz, sondern ein im angegrauten Arbeitskittel versteckter Staatsbeamter, der tagein, tagaus die Behörden-Mülleimer zu entleeren hatte. „Nein“, räsoniert er, „der Führer hätte nur nicht an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen müssen. Dann wäre Europa jetzt unser. Ein Jammer, dass wir den Krieg verloren haben. Sonst wären wir das Herrenvolk, Weltmacht geworden“, murmelte er und schob an diesem Morgen den dritten Mülleimer an den Straßenrand. Jahr um Jahr. Verdruss.
Freizeit oder gar Hobbys, die hatte er nicht, kannte er auch nicht. Wenn man einmal von seinen nächtlichen Angel-Ausflügen zum Wochenende im Fischerei-Hafen absah. Da stand er dann am Sonntagmorgen mit einer klatschnassen Reuse voller Aale im Korridor und strahlte über alle notdürftig geflickten Zahnstifte. Mutter hatte sofort Wasser in die Badewanne einzulassen. Aal-Tage. Jeden Tag gab’s Aal zu Mittag. Immer wieder Aal.
Es war ein Leben aus Sparsamkeit und Verzicht, ein Alltag aus Sonderangeboten mit Graupensuppe und fein geschnittener Speckschwarte und tranchierter Haut natürlich vom gekochten Aal. Es wurde „gegessen, was auf den Tisch kommt“. Vorsorglich hatte er gleich rechts neben seinem reservierten Frontplatz am Küchentisch einen elastischen Bambus-Stock griffbereit positioniert.
Wenn ich den Arm beim Essen nicht hob, bekam ich einen kurzen Schlag auf den Kopf. Halb verschluckt, immer Angst. Wenn ich mich an die Wand lehnte, wurden mir so zielsicher die Ohren umgedreht, bis ich in die Knie ging. „Krüppel“ nannte er mich, weil mein Brustkorb nicht dem Umfang eines Jungen meines Alters entsprach. Wenn ich es wagte, Widerworte auszusprechen, flog mein Kopf gegen die Wand.
Das Gebot der Kinder-Jahre im ostfriesischen Emden hieß nun einmal. „Ein deutscher Junge weint nicht“. Ich weinte aber viel, sehr viel. Deshalb hatte er ja auch einen knappen Satz auf meinem Schultornister festgeklebt: „Ich bin eine Memme“, stand da in großen Lettern gepinselt. Auch Mutter Jutta befand, ihr Junge sei „verweichlicht“, er müsse „abgehärtet werden“. „Dieser Bengel“ hätte es mit ihr allein in seinen Kinderjahren zu Schöningen viel zu gutgehabt. Er sei eben durch und durch „verhätschelt“ worden.
Bücher, auch Kinder-Bücher, Gesprächs-Anregungen, Schalk und Spiel, die gab es beim Zollwachtmeister keine. Ebbe. Wie sollte es auch, die hatte es in seiner Familie nicht gegeben. Fremdkörper. Dafür fehlte es an Witz, Humor, Gelassenheit. Es war und blieb achtloses Accessoires aus einem gänzlich unergründeten Milieu, die aus gegebenen Anlässen mal hervorgekramt wurden. So verirrte sich ein Bildband gelegentlich auf den Küchentisch, der da bedeutungsvoll besagte: Deutschland, „ein deutscher Mythos – wie wir 1954 Weltmeister wurden“. Sonst diktierte die Bild-Zeitung Befindlichkeit und Stallgeruch schon zu den Mahlzeiten.
Wie selbstverständlich vertiefte der Wachtmeister sich in die Gedankenwelt schwarzer Großbuchstaben; Pflichtlektüre am Mittagstisch. Tag für Tag die Bild-Zeitung . Immer und immer wieder die Bild-Zeitung. Kein Entkommen.
Es waren „Kopf-ab-Stories“ aus halbseitigem Milieu, die fortwährende
Faszination, auch Abscheu-Instinkte, die einen stets wiederkehrenden Kitzel freisetzten. Ob da nun laut Bild-Zeitung „endlich ein Mädchen-Mörder“ dingfest gemacht werden konnte, oder auch nicht. Nur solche knallig aufgemachten nicht selten erfundenen Geschichten ließen den Atem bei vollem Munde stocken; selbst wenn ein Vorfall sich im fernen Kentucky ereignet haben sollte. Bildungsfern, bildungsfeindlich
In Deutschland, einem der reichsten und aufgeklärtesten Länder der Erde, einer Nation mit einer ansonsten feinsinnigen Kultur der Rechtsstaatlichkeit, gilt für die Kindererziehung expressis verbis die Mentalität des Rechts der Germanen etwa 120 Jahre vor Christus. Fernab vom Bürgerlichen Gesetzbuch dieser Jahre hatte bei den Germanen der Vater die Straf- und Zuchtgewalt gegenüber seinen Zöglingen.
Er konnte über Leben und Tod willkürlich entscheiden. Er hatte das Recht, sie nach der Geburt auszusetzen, sie zu verstoßen, zu verknechten, zu töten. Erst mit dem Übergang von der Groß- zur Individualfamilie sollte sich das grauenvolle Gewaltverhältnis ändern, schrieb die ehemals profilierte Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker (*1919+2012) . Zeit ihres Lebens blieb die Wissenschaftlerin eine Vorkämpferin für Menschenrechte der Kinder. Sie sah ihre Aufgabe darin, Dunkelfelder der Kindesmisshandlungen auszuleuchten.
Tatort im Hauptzollamt war nicht selten der Kohlenkeller, abgedunkelt, nicht einsehbar, durch die Koksberge fast schalldicht. Ein Refugium, nahezu ideal für Kindesmisshandlungen. Immer wieder schlug Stiefvater Conny auf mich mit geballten Fäusten ein. Reizbarkeit, schnelle unkontrollierte, abrupte Wutausbrüche, Unbeherrschtheit. Die Gründe waren austauschbar, Nichtigkeiten. Immer wieder stieß er meinen Kopf gegen die vom Kohlenstaub schwarze Wand, riss den scheinbar leblosen Körper empor – schleuderte ihn mit aller Kraft auf einen Kokshaufen. Er fauchte: „Wenn du willst, kannste noch mehr haben, du Krüppel“
Es waren Beschimpfungen, Gewaltausbrüche, Kopfverletzungen, Todesängste, die wie eingebrannt aus meinen düsteren Erinnerungen abzurufen sind, mich begleiten. Bewusstlos lag ich da auf dem zu verfeuernden Koks. Augen zugeschwollen, Lippen aufgeplatzt. Was war nur geschehen? Der Junge hatte gewagt, seinem von Angst einflößenden Jähzorn befallenen Stiefvater zu widersprechen. Er wollte am frühen Abend zum Training der Jugend-Mannschaft seines Fußballvereins Kickers Emden statt den Rasen der Zöllner zu mähen.
Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, quetschte ich mich mit blutigem Gesicht, aufgeschlagenen Lippen und schmerzenden Körper durch eine Kellerluke. Ich flüchtete aus dem Elternhaus. Ich rannte durch die halbe Stadt zu meinem Klassenlehrer Gerhard Dengler. Ich redete und weinte. Doch auch dieser eher schmächtige Pädagoge verspürte Angst, gleichsam Schläge von meinem Stiefvater zu kassieren. Er war gerade erst aus dem Hörsaal der Pädagogischen Hochschule in Göttingen entlassen, an die Küste geschickt worden; Junglehrer-Landverschickung für zwei Jahre.
Dengler brachte mich jedenfalls nach Hause zurück. Er beschwichtigte mich, fragte nach meinen Missetaten und bestärkte von Angesicht zu Angesicht, den väterlichen Gewalttäter in seinem „Erziehungsauftrag“ – ganz nach der Allerweltfloskel „eine Ohrfeige habe noch niemanden geschadet“. Aus dem landläufigen Bewusstsein war und ist noch immer der „berühmte Kinderklaps“ nicht rauszukriegen. Für ihn, den Klassenlehrer, jedenfalls war mein Notruf damit abgetan. „Sonst bei einer offiziellen Schulintervention“, so Gerhard Dengler später, „hätte ich wohl möglich auch noch mehr heimliche Kloppe bezogen“. Er gab mir noch den Hinweis, dass er ein „Pädagoge“ und kein „Polizeikommando“ sei. Hilflosigkeit.
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