Bei den Einkäufen auf dem Bauernmarkt in Emden „zwischen den beiden Sielen“ an den Freitagen etwa fielen immer wieder mit Kopftüchern verkleidete Frauen auf. Es waren Mütter, die zudem ihre Augen mit Sonnenbrillen abzudecken wussten. Prügel-Opfer. Ein Stück verfrühter Orient, etwa drangsalierter Musliminnen in Deutschland? Verkehrte Welt. „Moin, moin, Jutta, jetzt auch Du? Wie geht es dir, alles wieder in Ordnung?“ fragte Turnerin Elsbeth besorgt vom Kneipp-Verein.
Meine Mutter schwieg, starrte auf den Kartoffelsack. Peinlich. Sie bedeutete nur, dass „das Leben ja weitergehen muss“. Geprügelt zu Hause nach dem Frühstück von ihrem Ehemann – kurz vor Dienstbeginn. Handkantenschlag. Oder es flogen wieder einmal Teetassen an die Wände. Geschirr wurde ohnehin nur noch in größeren Mengen im Versandhandel bestellt.
An diesem besagten Morgen hatte Jutta auch noch Besorgungen ihrer Bekannten auf dem Einkaufszettel. Frau Jensen, die eigentlich kontaktfreudige Lotsengattin aus der Cirkenastraße, wagte sich nicht mehr vor Türe, kauerte oft verstohlen hinterm Gardinenvorhang. Schamgefühl. Ein Auge war zugeschwollen, sie stotterte, weinte. Die Haustürschlüssel waren ihr abgenommen worden vom Kapitän zur See, ihrem Ehemann. Männer-Willkür, der das weibliche Geschlecht rechtlos ausgeliefert war.
Jutta mochte sie gerade in solch bedrückenden Stunden an den Missionar Gerhard Bergmann (*1914+1981) erinnern. Beeindruckend schien sie von seiner Evangelisation im Land der Ostfriesen in den sechziger Jahren. Zehn Abende ging Bergmann im überfüllen Missionszelt der Frage nach, „gibt es eine Hölle?“ Zehn Abende sang Jutta mit Leidensgenossinnen Jensen, Baumann, Heinrichs, Harken und Stumpf mit fester Stimme ein Halleluja. Einmal gelang es den Damen gar, ihre Männer dem Missionar vorzustellen. Dafür gab es hinterher Sekt und Sex – zu Hause versteht aus.
Schließlich hatte der Dr. Bergmann die Damen auf einen scheinbar „fatalen Reflex zwischen Ursache und Wirkung“ aufmerksam gemacht. Das „sexuelle Aushungern“ der Männer, also die Verweigerung der Frauen zum Beischlaf, verkehre die angestrebte Harmonie ins Gegenteil. Ablehnung, Distanz und oft vermittelte Gewalt folgen der Wollust. Wohlbedacht zitierte er den französischen Romancier Honoré de Balzac (*1599+1850). Balzac hatte in damaliger Epoche bereits viele Frauen an Willigkeit und Hingabe gegenüber dem Manne mahnend erinnert. „Das Bett ist das Barometer der Ehe.“
Jutta indes ging als Hausfrau hinter dem ostfriesischen Deich häufig in die Kurklinik Dr. Feldmann-Graefe in Bad Iburg am Rande des Teutoburger Waldes und auch nach Bad Lauterberg im Harz zu Dr. von Plachy . Atempause. Frauen-Urlaub. Jahr für Jahr hatte sie ihre Nerven zu regenerieren. In ihr wuchs die Sehnsucht nach Stille in einer zerbrechlichen Zeit, in der alltägliches Allerwelts-Geschrei ihres Ehemanns zunahm. Stille, sagte sie einmal, sei für sie mehr als die Abwesenheit von Geräuschen. Stille in einem Kurort waren auch Momente der Selbstvergessenheit.
Bekanntlich hat der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud (*1856+1939) , derlei Augenblicke als „wunschlose Glückseligkeit“ charakterisiert. Wer sich aber der Stille nicht hingeben mag und sich damit beruhigt, dass die innere Anspannung eines Tages nachlassen werde, liebäugelt mit dem Ur-Knall. Man hört auf, sich selbst zu spüren, sich selbst wahrzunehmen. Schematisch löst eine Angstwelle die nächste ab. Angst vorm Leben, Angst vor dem Tod, Angst vor den Menschen. Zusehends öfter schreckte Jutta des Nachts schweißgebadet hoch, hörte ihr Herz rasen. Selbstaufgabe.
Dessen ungeachtet gab es einen Mann, einen Berater, der seine Langmut geschmähten, geschundenen Frauen widmete. Es waren die Jahre X vor der Frauenbewegung, vor den Frauenhäusern. Er spendete Trost, gab Rat, mahnte zur Umsicht – eine Therapiestunde im Radio. Unter der Rufnummer „44 17 77 Hollander, guten Abend“ gab der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in Hamburg krisenbewegten Menschen, vornehmlich Frauen, zwischen 1952 bis 1971 die Möglichkeit mit dem Lebensberater Walther von Hollander (*1892+1973) zu sprechen. Scheidung, Schulden, schwul, Prügel, Alkohol, Untreue, Sinnkrisen der Männer – kein Thema blieb unberührt.
Zweimal wöchentlich wurde gesendet; donnerstags von 21.05 bis 22 Uhr und sonntags von 17.30 bis 18.00 Uhr. Es waren die Stunden der Frauen – der Küsten-Frauen. Hießen die Mütter nun Gesine, Elvira, Jutta oder auch Waltraud – sie alle hockten vorm Radio und lauschten auf UKW dem Rundfunk-Therapeuten. Ventilfunktion, Nachdenklichkeit, Diskussionsstoff. Hollanders Art blieb ruhig, immer besonnen, die tiefe Stimme lud ein, sich Sinnkrisen und Nöten zu nähern.
Ein zaghafter Bewusstseinswandel zeichnete erste Konturen, was so viel bedeutete: ganz allmählich das Leben neu zu lernen. Das Leben nicht über andere, über die Männer zu definieren, eigene Bedürfnisse, eigene Interessen zu formieren. Fortschritt, 45 Jahre später: Immerhin gibt es seit November 1979 in Frauenhaus. Statistiken vervollständigen die Dramen. Über 1.100 Frauen und 1.250 Kinder suchten (1986-2006) Schutz, Beistand wie Hilfe. Das ist über Jahre gerechnet etwa jede fünfte Frau, die sich in Emden vor ihrem Mann auf der Flucht wähnte.
Emden und sein Hinterland, die Krummhörn, ist eine traditionelle Hochburg der Sozialdemokratie. Hier engagierte sich im 16. Jahrhundert der rechtsgelehrte Bürgermeister Johannes Althusius schon 150 Jahre vor Jean-Jacques Rousseau (*1712+1778) für die Volksdemokratie, hier organisierten Deicharbeiter im 18. Jahrhundert die ersten Streiks in Deutschland.
Beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) im Sommern 1974 demonstrierten achttausend Arbeiter der Nordsee-Werke und der VW-Niederlassung in Emdens Innenstadt. „Wäre Brandt abgewählt worden“, sagte der frühere Betriebsratsvorsitzende Walter Gehlfuß, “hätten wir eine Revolution gemacht. Verständlich, dass in einer solchen auf die SPD eingestimmten Atmosphäre an der Nordsee-Küste, auch nur kleine Verrenkungen ihrer SPD-Prominenz wohlwollend registrieren wurden.
Aufgeregt und üppig eingeschenkt wusste jedenfalls die Emder Zeitung im Jahre 2005 davon zu berichten, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005), sich gern für die heimatliche Presse aufmerksam seiner fünf Schwiegermütter erinnert. Im speziellen familiären Anliegen von Anneliese Taschenmacher, Frau Schröder die Zweite (1972-1974).
In einer kleinen Reihenhaus-Siedlung im Vorort Larrelt verbrachte Schröders zweite Schwiegermutter Alma mit 82 Jahren ihren Lebensabend. Naheliegend, dass Emdens Oberbürgermeister Alwin Brinkmann (1986-2011) Liebesgrüße mit Berliner Blumen direkt aus dem Kanzleramt überbrachte. Schließlich habe Gerhard in den siebziger Jahren bei den Taschenmachers Nächte hindurch den Ostfriesen-Skat gespielt.
Des Morgens in aller Früh ist er gleich „mit unserer Anne “ an den Deich gegangen. „Da sollen sie immer stur in Richtung Holland geglotzt haben, Leuchttürme auf holländischen Landzungen mit dem Fernglas beobachtend. Ja, ja“, schmunzelte Ex-Schwiegermutter Alma ein wenig Gedanken verloren, „das ist aber wirklich nicht der erste Schröder-Gruß gewesen.“ Einmal, erzählte sie plötzlich ungefragt, habe sie einen ganz langen Brief aus privatem Anlass (Scheidung) auch schon mal von Schröder bekommen. Der kam allerdings nicht aus Berlin, sondern noch aus Hannover. Denn da war „der Gerhard mal niedersächsischer Ministerpräsident und so.“ (1990-1998). Schneller Abgang. Leises Ende. Schröder-Jahre.
Weite Flure, auf denen es streng nach Linoleum roch – das wurde mein Zuhause. Das Hauptzollamt zu Emden, ein moderner, zweistöckiger roter Klinker-Neubau, lag in der Ringstraße. Waffenkammer, Fahnenmast, Verladerampe für Güterkontrollen, Zollhunde, Peilsender für Zollboote an der Küste, 28 Diensträume. Uniformzwang für Hinz und Kunz. Viele Stiefel schleiften Tag um Tag die Flure. Kaserne. Vater Staat.
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