Es waren Verbrechen, die nie aufgeklärt wurden. Mitten durch den Lapp Wald fraß sich die Zonengrenze hindurch. Dieser unüberschaubare Grenzverlauf verbarg so mancherlei Gefahren. Unbedachte Spaziergänger landeten unversehens in der von der Roten Armee beherrschten Sowjetzone. Festnahmen, Verhöre – Abschiebungen.
Die Zollgrenz-Beamten waren ausgerüstet mit Handfeuerwaffe und Feldstecher. Sie waren zu Fuß oder per Fahrrad unterwegs. Die Postenstärke betrug zwei Grenzer oder ein Beamter mit Zollhund. Untergebracht waren die Männer in den entlegenen Grenzdörfern der Aufsichtsstellen in Holzhäuschen.
So wurde hier Tag und Nacht gearbeitet. In drei Schichten wechselten sich die Zollgrenzer ab. Die Dienstzeit bestand aus drei Schichten; von 8 bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr und 22 bis 8 Uhr in der Früh. Auf der DDR-Seite zeigten stets Doppelposten der Volkspolizei mit Maschinenpistolen ihre Präsenz. Im unübersichtlichen Gelände oder bei hohen Häusern sicherten Beobachtungstürme ihren Zugriff. Monat für Monat kamen hier im Grenzabschnitt Schöningen/Helmstedt mehr als zweihundert Flüchtlinge an; auch Volkspolizisten, die in voller Montur mit ihren Kalaschnikows überliefen.
Zöllner Conny lebte im Örtchen Söllingen, von Schöningen sieben Kilometer entfernt, in einer flachen, feuchten Bretterbude. Das Grenzer-Dorf zählte 500 Einwohner, genehmigte sich eine Kneipe mit Musikbox und viel Sehnsucht. Er hauste gleich neben einem morastigen Stoppel-Bolzplatz des VfL Söllingen von 1919 und schaute Dorf einwärts auf eine Rübensaftfabrik. In der Zöllner-Baracke, wie sie im Dorf genannt wurde, hatte jeder einen Tisch, zwei Stühle, eine Pritsche, einen Wasserhahn, Gemeinschaftsklo. Zu Weihnachten schmückte die Bretterbude ein Baum. Zum Glück schepperte ein Radioapparat rund um die Uhr. – Das war Söllingen.
Deutschland durchlebte seine Nachkriegsjahre des Zusammenbruchs, des Aufbaus, der Hoffnungen, der Restauration. Über 3.250.000 deutsche Soldaten ließen in Ost wie West ihr Leben, kehrten in ihr Heimatland nicht mehr zurück. Insgesamt 11.094.000 Männer wurden als Kriegsgefangene von den alliierten Siegermächten interniert. Insgesamt gelten 1.3 Millionen Schicksale deutscher Soldaten auch nach Öffnung der sowjetischen Archive bis dato als ungeklärt. Indes: Männer waren rar. Folglich war der Mann das Synonym für Mangel. Er fehlte überall. Das waren zumindest Connys Stunden, späte Stunden.
Eine Berufsausbildung hatte er nach achtjähriger Volksschule in Wilhelmshaven nicht abgeschlossen. Hilfsarbeiter. Fanfaren-Reiter in Hitlers Jugend auf den Deichen des Jadebusens waren und blieben hervorstechende Merkmale in seinem Leben. Mit dem Deutschen Volkssturm des Aufgebots II marschierte er mit viel Propaganda-Getöse im November 1943 gen Osten. Zum Kampfgebiet wurde das monatelang von deutschen Luftangriffen heftig gezeichnete Städtchen Frolowo.
Mit allen „15.000 waffenfähigen Volkssturm-Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren“ war der 18jährige Conny nirgendwo in der Lage, an welchen Frontabschnitten auch immer, nur hinhaltende Scharmützel zu liefern. Sie wurden aufgerieben oder wie Kaninchen von Mörsergranaten über die Felder gescheucht. Kanonenfutter. Hoffnungslos. Kaum funktionierende Waffen, keine ausreichende Munition, keine Schießausbildung – nur Hitler im Kopf, Tote, Verwundete, Hunger, Leid über Leid, Verrohung menschlicher Empfindungen mit unbeugsamen Überlebenswillen: „Augen zu und durch“. Maschinengewehr-Salven durchsiebten seine Unterschenkel, Lazarett, Kriegsgefangenschaft in Frolowo in der Oblast Wolgograd – Lager 163.
Auf Gewalt-Märschen tief in den Osten der Sowjetunion hinein und in Sammellagern fand jeder fünfte Soldat den Tod. Conny überlebte. Täglich galt es zu Fuß 40 bis 50 Kilometer zu bewältigen. Wer erschöpft am Wegesrand liegen blieb, konnte sich eines sicher sein – Kopfschuss. Nach verbrieften Berichten erhielt ein Gefangener morgens einen gesüßten Kaffee und 600 Gramm Brot, mittags etwa einen Liter dickliche Suppe und abends gleichfalls einen Liter Suppe. Schwerstarbeiter, etwa in den Bergwerken, konnten zusätzlich einen Nahrungswert von 2800 Kalorien zu sich nehmen. Morgens um 5 Uhr wurde geweckt, von 7 bis 17.30 Uhr malocht, körperlich hart gearbeitet – unterbrochen von einer einstündigen Mittagspause. Landser Conrad Oltmanns durfte jedoch von einer „glücklichen Fügung“ sprechen, sich Anfang 1947 in einem sogenannten „Heimkehrer-Transport“ wieder zu finden. Es waren Gefangenen-Züge, die mit groß angelegter russischer Film-Inszenierung über Frankfurt/Oder gen Westen rollten.
Ein ausgemergelter Körper trug den aufgedunsenen Wasserkopf vor die Haustür seiner Eltern in Wilhelmshaven. Zähne waren ausgeschlagen oder einfach nur abgebrochen, Unterschenkel von Einschüssen markiert. Bettnässer. Bluthochdruck. Richtig reden, etwa einen knappen zusammenhängenden Satz zu formulieren, das konnte er nicht. Er stotterte.
Volkssturm-Kämpfer Conrad zählte zur Kategorie der Feuchtdystrophiker; jener Kriegsgefangener, die des Morgens beim Aufstehen kaum aus den Augen schauen konnten. Das Wasser drang beim Liegen ins Gesicht, Schienbeine, Knöchel schwollen zu deformierten Klumpen an. Der junge Mann mochte auch niemandem so recht zur freudigen Begrüßung in seiner Heimatstadt Wilhelmshaven die Hand geben, gar die Eltern umarmen. Er wusste nur zu genau, dass der Fingerdruck eine minutenlange Vertiefung in seiner Muskulatur zurückließ. Er stammelte knapp: „Heil Hitler. Da bin ich wieder. Damit habt ihr wohl nicht mehr gerechnet.“ Berührungsängste eines schwächlichen Jünglings, der selbst in diesem Jammertal seine Gefühle aus Schmach und Niederlage nicht zeigen konnte oder wollte. Stark hatte er zu sein. Männer.
Urerlebnisse in jungen Jahren, wie diese des Massensterbens in Russland, wirkten normalerweise am nachhaltigsten. Sie beeinflussten Einstellungen, sie bestimmten Verhaltensweisen, sie prägten sich unauslöschlich ein. Gravierend können Urerlebnisse vielleicht sein, wenn sie aus einer Konfrontation, aus einem Krieg, an Wendepunkten entstehen. Deutschland lag in den Trümmern. Neubesinnung schien greifbar nahe. Nur er, der Hitler-Junge und Volkssturmkämpfer, verspürte wie viele Russland-Heimkehrer nicht das Bedürfnis, keineswegs die innere Einsicht oder gar korrigierende Notwendigkeit, eine Abkehr vom Nationalsozialismus zu vollziehen. Im Gegenteil.
Er blieb sein Leben dem Adolf treu ergeben. Erst seinem Führer Adolf Hitler, sodann in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts seinem Adolf von Thadden (*1921+1996). Adolf von Thadden avancierte von 1967 bis 1971 zum Bundesvorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei Deutschland. Es folgten Die Republikaner des früheren SS-Unterscharführers Franz Schönhuber (*1923+2005); allesamt unbelehrbare Gestalten einer Sammlungsbewegung nationaler wie auch rechtsextremer Männer, die sich trotz verfassungsfeindlicher Hetz-Parolen Politiker nennen durften.
In den ersten Nachkriegsjahren verdingte Landser Conny sich als sogenannter „Trümmer-Mann“ der Stadtverwaltung in Wilhelmshaven; ein Tagelöhner, der Schutt wie Schrott wegzuräumen hatte. Die Stadt liegt im Nordwesten Deutschlands an der Küste des Jadebusens, einer weitflächigen Bucht der Nordsee. Wilhelmshaven zählte mit seinen vielen Flach- und Klinkerbauten nach dem Zweiten Weltkrieg 89.000 Einwohner.
Wilhelmshaven war schon immer die eigentliche Kriegshafenstadt der Deutschen. Hier wurde schon seit Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 wettgerüstet, aufgerüstet – Kriegsschiffe, Torpedos, Flotten, Marine-Geschwader gebaut und Matrosen wie Material behandelt; gedrillt gebrochen. Vor allem galt es hier, Vernichtungspläne gegen andere Nationen militärstrategisch auf ihre Machbarkeit zu überprüfen, schließlich in die Tat umzusetzen. Unter dem Diktat von Kaiser Wilhelm II. (*1859+1941) war es vornehmlich die in Wilhelmshaven stationierte Marine, die in Afrika, Asien und Ozeanien Land wie Leute in deutschen Kolonien unterjochte.
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