Bruder Lothar lauschte wissbegierig Stockhofes Aphorismen zu Lebensweisheiten des neuen „Herren-Volkes“, beim Picknick versteht sich. Wenig später verschwand er im Wald – Pilze suchen.
Stockhofes KZ-Lager befand sich im südniedersächsischen Moringen. Das Städtchen Moringen mit seinen etwa 8.000 Einwohnern liegt 25 Kilometer nördlich von Göttingen und etwa 120 Kilometer von Schöningen entfernt. In diesem Konzentrationslager der Nazis wurden vorwiegend 950 Männer – vor allem Handwerker und Arbeiter – eingesperrt. Der jüngste Häftling war 16, die ältesten über 60 Jahre alt. In späteren Zeitfolgen wurden mit dem Bau eines Frauen-KZs (1938) begonnen; sodann Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas, Prostituierte, „Asoziale“ interniert. Unter dem Kommandanten Karl Stockhofe fehlte es an allem – an Essen, Wasser, Seife, Kleidung – nur nicht an Arbeitszwang, nur nicht an Gewalt. Bevor es ein Frauen-KZ wurde, blieb es Kommunisten, Arbeitern, Intellektuellen – unisono Juden als Internierungslager vorbehalten.
Lebensgefühle und alltägliche Gesetzmäßigkeiten sprengten herkömmliche Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Hitlers Führerkult durchdrang Gemüter wie Seelen. Der Bruch zwischen meinen Müttern war schließlich kein Generationskonflikt, keine temporäre Verstimmung. Hier sträubte sich Großmutter Mämä unausgesprochen und intuitiv mit ihrem Lebensentwurf gegen das Undenkbare. Sie spürte unterschwellig leise Wirklichkeits-Verzerrungen, Gemütswallungen, wenn ihre Tochter – meine Mutter – nur den Namen Hitler aussprach. Oft, sehr oft, suchte Jutta im Volksempfänger versessen nach Hitlers-Neuigkeiten. Er war nicht nur ihr Idol.
Wie gebannt blickten Leute zu Schöningen auf die alljährliche Inszenierung Hitlers beim „Tag des deutschen Bauern“, der jährlichen Führerrede auf dem Bückeberg bei Hameln. BDM-Mädel Jutta kannte und duldete folglich nur ein Thema: Ihre Reise zum Erntedankfest der Nazis am ersten Sonntag im Oktober auf dem grasbewachsenen Festplatz. Mit seinen 180.000 Quadratmetern, vom Architekten Albert Speer (*1905+1981) konzipiert war er für derlei Massen-Aufmärsche vorgesehen, Dort versammelten sich jährlich Hunderttausende Menschen in „dieser urdeutschen Landschaft …, um dem deutschesten aller Deutschen, dem Kanzler des Reiches zu huldigen und mit ihm dem Schöpfer zu danken für Saat und Ernte.“ Welcher Jubel, welch eine nicht enden wollende Begeisterung.
Stunden um Stunden harrten hier Parteigänger auf dem Bückeberg aus, bis Hitler endlich sein Konterfei den Massen servierte. Über dreitausend Personen fanden auf der Ehrentribüne ihren Platz, 76 Lautsprecher, Podeste für Filmkameras, Zeppeline. Das Osnabrücker Kreisblatt begeisterte sich in einem Artikel vom 4. Oktober 1933: „Brausend klingen Heilrufe auf, pflanzen sich lawinenartig fort und ein ungeheurer Jubel bricht los, als die Ankunft des Führers auf dem Festplatz gemeldet wird.“
Indes: welch eine Strafe, welch eine Schmach und Schande beim BDM. Großmutter Mämä weigerte sich, ihre Tochter zum Führerspektakel auf den Bückeberg ziehen zu lassen. Kurzum: Sie gab ihr nicht einmal das Reisegeld von fünf Deutsche Reichsmark. „Das war der Bruch“, gestand Mutter Jutta viel später rückblickend. Ein Zerwürfnis, das bis zum Tod keine klärende Aussprache fand. Damals jedenfalls ließ Juttas Antwort nicht lange auf sich warten am Markt zu Schöningen. Partei-Töchterchen in weißer Bluse, schwarzer Rock auf dem Weg zum „BDM-Dienst“. Sie musste die Mutter passieren. Die kniete in der Küche, scheuerte den Steinfußboden. Töchtern kippte mit ihren schwarzen Stiefeln den Eimer um. Mutter schlug mit dem Scheuerlappen auf die weiße BDM-Bluse ein. Sonntags in der kleinen Stadt.
Von meinem Fensterplatz in Großmutters guter Stube lag das Hotel-Restaurant „Schwarzer Adler“ mit seinem weitflächigen Ballsaal kaum 50 Meter entfernt. Als Kind starrte ich unwillkürlich immer und immer wieder auf dieses leblose, zweistöckige Bauwerk. Mit Holzlatten blieben die Eingänge verbarrikadiert, eingeschlagene Fensterscheiben, abblätternder grauer Fassadenanstrich. Unwirtlich. Nichts bewegte sich, nichts geschah; Totenstille Jahr um Jahr, bis es 1963 abgerissen wurde. Bis dahin deutete Geheimnisvolles die noch spürbare Architektur in ihrer städtebaulichen Dominanz an. Der verwaiste Gebäude-Komplex des „Schwarzen Adlers“ lag ganz nah am Vorplatz der St. Vincenz-Kirche , in Tuchfühlung mit dem alten Rathaus, den Mächtigen des Ortes sozusagen. Gespenstisch diese Ruhe.
Erst später, in weitaus späteren Jahren, konnte ich es mir vergegenwärtigen, dass dieser einst schmuck verzierte Betonklotz „Schwarzer Adler“ ganz nah an meinem Geburtshaus an meiner Heimstadt lag. Dass dieser mit stattlichen Stuck an den Decken versehene „Schwarze Adler“ mit seinem Parkettsaal, seinen Logen wie üppigen Vorratskellern, seinem stets überfüllten Theken-Ausschank mehr als irgendeine x-beliebige Übernachtungs-Gaststätte war. Hier hatte die Seele der Stadt versteckt ihr Domizil, Liebe, Nähe, Sehnsucht, Suff, Selbstdarstellung, Bedeutungsdrang – aber auch der Verfall, der Niedergang, der Vernichtungswahn,
Hitlers SA lebte über Jahre scheinbar im vermieften Milieu deutschnationaler Gesinnung verträglich nebeneinander her. Deutschland. Der „Schwarze Adler“ war nicht nur das NS-Parteilokal wie auch der SA. In seinen Kellern stank es stets nach Urin. Im Souterrain verfügtes Hitlers-Mannen über eines der Folterzentren der Nationalsozialisten im Freistaat Braunschweig. Am 15. Dezember 1938 erklärte das Innenministerium, das von den ehemals 1.500 Juden nur noch 500 Juden im Land Braunschweig wären – alsbald sei die ganze Region „judenfrei“.
Selbstverständlich spielten Kapellen im „Schwarzen Adler“ an Abenden zum Tanz auf. „Machen wir‘s den Schwalben nach“, nannte sich einst die Melodie meiner Großeltern. „Es wird einmal ein Wunder geschehn“, prophezeite Zarah Leander (*1907+1981) dem Fräulein Köhler beinahe ausnahmslos jeden Sonnabend. Da schwofte das kräftig gewachsene BDM-Fräulein bis in die Nacht mit ihrem Halbbruder Lothar in HJ-Uniform; er, als vorgeführter „Anstands-Wau-Wau“. Sie im Blickfeld der gewichtigen Herren von Partei und SA natürlich; vor Hitlers-Lokalfürsten auf dem Präsentierteller gewissermaßen.
Tagsüber schlugen dieselben SA-Mannen in seinen abgedunkelten Kellerräumen oder auch auf den Kegelbahnen jüdische Mitbürger zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich. In ihren Vernehmungszimmern wurden die willkürlich herausgegriffenen Familien von Prügelschergen malträtiert, mit Stromstößen gequält – und immer wieder gefoltert. Dramen haben sich vor unserer Haustüre abgespielt. Meine Großmutter „Mämä“ , Gertrud Hoff (*1898+1988 ), erinnert sich mit belegter Stimme hinter vorgehaltener Hand, als hätte sie noch Jahre danach Unliebsames zu befürchten. „Es war einfach furchtbar, diese schrecklichen, qualvollen Ur-Schreie, Todes-Ängste Tag für Tag. Ich war wie benommen. Und es wollte und wollte nicht aufhören.
Meistens an den Nachmittagen fuhr die SA mit Juden aus der Nachbarschaft im Gefangenentransport vor. Das habe ich in meinem Leben nicht mehr vergessen können. Jeder auf dem Marktplatz bekam die bestialischen Folterschmerzen mit. Alle schwiegen. Alle grüßten weiter mit Heil Hitler. Hatten alle insgeheim höllische Angst, im Schwarzen Adler der SA in einem Folter-Verhör zum Fraße vorgeworfen zu werden. Seelische Erschütterungen, die nicht weichen wollten, die sich eingekerbt hatten. Jedenfalls bei meiner Großmutter. Sie war schwach, lebensmüde – wurde im Pflegeheim versorgt. Aber noch bei meinem letzten Besuch – kurz vor ihrem Tod – wollte sie mir fortan von den Menschen im Schwarzen Adler erzählen, berichten.
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