PATTY MAY
Für Franky
Inhaltsverzeichnis
Es gibt Tage, da hätte man gar nicht erst aufstehen sollen.
Einfach im Bett bleiben, da wo man sicher ist, wo nichts und niemand einem was anhaben kann. Jede Zelle in deinem Körper schickt dir Warnsignale. Bleib liegen, mach das Vorhängeschloss zu, zieh das Telefonkabel raus und verbarrikadiere dich in deiner Wohnung. Mach blau, lass dich treiben, zapp durch die Fernsehkanäle, lies endlich das Buch, das du schon so lange aufgeschoben hast, oder beobachte, wenn es denn sein muss, deine Nachbarn vom Fenster aus.
Es ist gleich, was du tust –, geh nur nicht raus!
Dein Instinkt sagt dir untrüglich, dass draußen etwas lauert, etwas, dem du nicht entgehen kannst. Das, egal was auch immer du heute anpacken wirst, in die Hose geht. Denn das Unheil erwartet dich, vielleicht nicht gleich, doch es wird dich mit Gewissheit früher oder später aufspüren.
Aber was tust du stattdessen?
Du stehst auf, wider besseres Wissen, ignorierst du dein Gespür, erhebst dich aus deinen warmen Decken, begibst dich vielleicht zur Arbeit, verlässt die schützende Wohnung. Jetzt hast du den Stein ins Rollen gebracht, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, und du kannst nur hoffen, dass daraus keine Lawine wird. Du findest mich melodramatisch?
Du glaubst nicht an solchen Unsinn wie böse Vorahnungen?
Dann möge die Macht mit dir sein!
Ich weiß, wovon ich rede, und ich wünschte wirklich, ich hätte auf die Warnsignale gehört und das Schicksal an diesem Tag nicht herausgefordert.
Also überleg dir gut, ob du am Ende meiner kleinen Geschichte wirklich aufstehen und dich der Welt da draußen stellen willst oder dich lieber unter der Decke versteckst.
Damit es dich nicht finden kann – das Unheil.
Heiß und brennend schien die Sonne herab. Die Luft stand flimmernd über dem schmalen goldfarbenen Strand. Vereinzelt wuchsen Palmen nahe der Wasserlinie, ihre langen Blattwedel wiegten sich sacht im Wind, nicht weit dahinter begann die Grenze der dicht gewachsenen Vegetation.
Eine flache Bambushütte schmiegte sich an diese Front und verschmolz in Perfektion mit den grauen Stämmen des Palmenhaines, dessen lange Schatten sich schützend über die Behausung legten. Schwere Teakholzstühle mit sandfarbenen Kissen standen einladend auf der Veranda des Hauses, die jedem Gast einen freien Blick auf das Meer erlaubte.
Lose Enden des eng verflochtenen Blätterdaches hingen weit über der Terrasse der Hütte herab und bewegten sich leise raschelnd in der steten Brise, die über die See bis zum Land hinaufzog. Etwas weiter zum Strand hinunter spannte sich eine einsame Hängematte zwischen zwei Baumstämmen.
Verträumt blickte ich auf den Ozean hinaus, glitzernde Wellen tanzten auf dem azurblauen Wasser, Gischt spritzte auf, als sie sich donnernd am vorgelagerten Riff brachen und wenig später, fast zahm, schäumend über das Ufer rollten. Sie brachten Steine und Muscheln mit, zogen sie wieder in die Tiefe zurück, um sie Sekunden später erneut auf den Strand zu werfen.
Der Klang des Meeres wirkte betörend schön.
Insekten, kleine Krabben und allerlei Getier suchten den Wassersaum gründlich nach Nahrung ab, und zwei zänkische Vögel stritten um einen besonders lohnenswerten Happen.
Alles war vollkommen.
Der Klang kräftiger Schritte ließ mich zur Hütte hinaufblicken. Sonnengebleichte Haare wehten im Wind, bronzefarbene Haut überspannte das Spiel harter Muskeln, die sich bei jeder kleinsten Bewegung an der bis auf die Shorts entblößten Statur des Mannes zeigten.
Wohlwollend sah ich zu, wie er das weiße Surfbrett unter den Arm klemmte und zum Strand hinunterschlenderte.
Jeder seiner Schritte strotze vor Kraft und Selbstbewusstsein.
Makellos wie Michelangelos David schritt der Adonis lächelnd an mir vorbei und stürzte sich in die Fluten. Sein athletischer Körper schwang sich mit der Anmut eines trainierten Sportlers aufs Brett hinauf und bezwang mühelos den Tanz der Meereswogen.
Verlockend winkte er mir zu, ich folgte der Einladung, trug mein Brett ins Wasser und legte mich bäuchlings darauf. Kraulend ließ ich mich vom Board aufs offene Meer hinaustragen, Gischt spritzte mir ins Gesicht, und meine Lippen schmeckten das Salz, Wasser strömte mein Haar herab, während ich mit Leichtigkeit durch die Wellen glitt.
Unbändiges Glück durchströmte mich, die Vorfreude, mit dem Ritt auf den Wellen den Naturgewalten zu strotzen, sich ihrer beeindruckenden Macht zu widersetzen und ihre Stärke mit der meinen zu messen.
Mutig sprang ich auf das Brett.
Plötzlich trug das Meer eigenartige Klänge mit sich, ich suchte nach dem Ursprung, als mich eine gigantische Welle erwischte.
Mit der Kraft einer riesigen Faust fegte sie mich vom Surfboard, spülte mich hinfort und zog mich hinab in die dunkle unendliche Tiefe.
Strampelnd versuchte ich zurück an die Oberfläche zu kommen. Schlug wild um mich, voll panischer Angst zu ertrinken.
Ein letztes Aufbäumen.
Mit zuckenden Gliedern und weit aufgerissenen Augen fuhr ich hoch und brauchte einen Moment, die visuellen Bilder richtig zu verarbeiten, die da auf mich einströmten.
Die Konturen eines großen Schrankes, die matte Reflektion eines Spiegels und dunkle Wände, von denen ich sofort wusste, dass diese orangerot gestrichen waren, schälten sich aus der Dunkelheit. Mein Schlafzimmer.
Schwer atmend und erschöpft sank ich in weiche Kissen zurück.
In meinen Ohren rauschte das Echo des tosenden Meeres, fast glaubte ich noch den Geschmack des Salzes auf meiner Zunge zu spüren, so real war mir diese Traumwelt erschienen.
Musik tröpfelte in mein Hirn, unpassend und an den Nerven zerrend, veranlassten mich die Misstöne mit geradezu übermenschlicher Anstrengung zu einer Reaktion. Widerwillig und immer noch arg benommen schielte ich mit einem Auge in die Richtung der vermutlichen Störquelle.
Neonfarbene Ziffern wiesen mir den richtigen Weg im Halbdunkel, unkontrolliert schlug ich mit der flachen Hand auf den Wecker ein und hoffte einfach, dabei den richtigen Knopf zu erwischen.
Endlich erstarb David Hasselhoffs Stimme und sein in grenzenloser Freude geträllertes Lied. Mann, ich bin ein ausgesprochener Morgenmuffel, ausgelassene Heiterkeit zu dieser frühen Stunde löst bei mir eher eine ausgewachsene Aggression aus. Und welcher Radiomoderator hatte es ernsthaft gewagt, diese Schnulze wieder auszugraben? Ausgerechnet „Looking For Freedom“, als wäre allein das Aufstehen nicht bereits schlimm genug!
Zufrieden mit der eintretenden Stille kuschelte ich mich zurück in meinen warmen Kokon.
Sieben Uhr dreißig.
Ich konnte mir ruhig zwei weitere Minuten in paradiesischer Abgeschiedenheit gönnen. Schließlich hatte ich noch ein Date mit dem umwerfenden blondgelockten Helden.
Angestrengt versuchte ich sein Abbild aus meinen Traum hervorzuzaubern. Die Statur seines Äußeren nachzuzeichnen, gelang mir mühelos, aber die Gesichtszüge ließen sich nicht so leicht manifestieren und blieben vor meinem geistigen Auge verschwommen. Höchst kreativ ersetzte der Verstand die fehlerhafte Retrospektive mit dem markanten Gesicht eines Schauspielers, aus der ihm zur Verfügung stehenden Datenbank meiner Erinnerungen.
Voll Sehnsucht projizierte ich mich an den Strand zurück, wo der Mann meiner Träume dem Meer entstieg, stattlich wie der göttliche Poseidon höchstselbst.
In freudiger Erwartung blickte ich ihm entgegen, wie er mit federnden Schritten auf mich zueilte, unbeirrbar und magnetisch angezogen, als wäre ich der Mittelpunkt seiner ganzen Welt. Bei mir angekommen, blieb er ruhig stehen, versenkte den Blick blauer Augen tief in den meinen, bis ich glaubte, er wolle darin all meine intimsten Gedanken lesen.
Читать дальше