1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Ulrich Winterscheid sieht gerade den „Orion“ und fixiert angestrengt Rigel an, den hellsten Stern im Wintersternbild, der mit seinen 0,12 mag Helligkeit jetzt immer heller zu scheinen scheint.
„Ja, natürlich, Frau Doktor“, glaubt er sich selbst nicht.
In diesem Augenblick klopft es an der Tür. Gleichzeitig wird sie aufgerissen und Ulrichs Sohn Nico tritt in den Raum. Ohne Gruß gackert der los: „Geil, Paps, echt geiles Silvesteroutfit. Der Scheich steht dir echt gut.“
„Nun beruhigen Sie sich erst einmal“, ruft Dr. Ziebach dem Jüngling entgegen. „Ich nehme an, Sie wollen Herrn Winterscheid abholen. Aber ihm wird es gar nicht so lustig zumute sein. Also gehen Sie äußerst schonend mit ihm um.“
„Da hörst du es, Nico. Was ich dir immer sage.“ Vater Winterscheid macht Anstalten aufzustehen.
„Moment, Herr Winterscheid, warten Sie noch einen Augenblick. Ich lasse eben noch den Diagnosebericht für Ihren Hausarzt ausdrucken. Den können Sie dann gleich mitnehmen.“
Die Doktorin spricht es und verlässt schnellfüßig den Raum.
Nico wartet ab, bis die Tür verschlossen ist. „Was is´ das denn für ´ne Pute?“
Ulrich bemüht sich, einen klaren Gedanken zu fassen und seine offensichtlich fehlgeschlagenen Erziehungsmethoden durch eine kluge Bemerkung doch noch retten zu können. „Du darfst nicht immer alle Leute gleich vor den Kopf stoßen, Nico. Manche verstehen deine Späße nicht, und das kannst du dir als zukünftiger Chef nicht leisten.“
Nico lenkt ab. „Stimmt das wirklich, dass dich dieser Profi-Eishockeytorwart zusammengeschlagen hat, den du erst vor zwei Wochen für teures Geld eingekauft hast?“
„Was“, stöhnt Ulrich auf, „ ich weiß nichts mehr von gestern Abend. ….außer, dass die Freundin vom Rapp sehr nett war.“
„Rapp? Ist das dieser Torwart? In der Zeitung steht, der wäre nach dem ersten Gegentor ausgerastet, weil du seine Freundin auf der Tribüne angegrabscht hättest.“
„Seine Freundin, das ich nicht lache.“ Beim ersten Versuch, sich aufzurichten, zuckt Ulrich vor Schmerzen zusammen, „die kenne ich schon aus Berlin. Mit der konnte ich prima um die Häuser ziehen. Auch sonst…“
Nico redet ihm dazwischen: „Ach und damit du an die rankommst, hast du diesen Torwartfuzzi gekauft?“
„Respekt, mein Sohn, Respekt! Bob Rapp war immerhin Nationalspieler für Deutschland. Und ich will hier als Vereinsboss als der große Macher auftreten, vergiss das nicht. Nur so werden wir den Zuschlag für unsere Zukunftspläne verwirklichen können.“
Nico tritt ans Fenster, wechselt beim Blick auf den „Wintertraum Oberstdorf“ das Thema. „Mal was anderes, Paps, ich weiß nicht, ob der Bürgermeister hier der richtige Mann für uns ist. Der Brandenburg und ich hatten gestern ´nen Termin mit dem. Der Einödhofer glaubt, dass die Eigentümer oben beim Kühberg noch Ärger machen werden. In ihrer Satzung steht so was wie, es darf kein Land verkauft werden.“
„Sei unbesorgt, der Alte kennt seine Pappenheimer hier ganz gut. Der hat doch die Unterschriften vom Vereinsvorstand längst zusammen.“
„Ja, das weiß ich. Aber Einödhofer meint, es wäre vielleicht doch besser, den Park nördlich vom Ort zu planen.“
„Quatschkopf, ich will das Gebiet vor dem Oytal und sonst keines. Für unsere Wildwasserbahn brauchen wir richtig viel Höhenunterschied bis zum Fluss und die Wasserzufuhr durch die Trettach. – Nee, nee, Nico, lass mich das mal machen. Die Leute vergessen ihre Moral immer ganz schnell, wenn nur der Preis stimmt.“
Kapitel 11 - Polizei Oberstdorf 21. 12., morgens
Schibulsky betritt das Gebäude der Polizeiinspektion Oberstdorf am Bahnhofsplatz 4. Eine junge Polizeimeisterin führt ihn zum Büro im Nebenraum. Hier schreibt der POM Peter Endras gerade seinen Bericht über eine schwere Kopfverletzung beim gestrigen Eishockeyspiel im Eissportzentrum. Als Trainer der Heimmannschaft hatte er das Geschehen ja genauestens beobachtet und seinen Neuzugang anschließend notgedrungen gleich auf die Bank gesetzt.
„Ja grüß Gott, das ist ja eine Ehre; der Kommissar besucht mich hier in den Niederungen unseres kleinen Kurortes.“
„Na, na, den Kommissar kannst du ruhig weglassen; das ist schon seit zwei Jahren beendet. Und sag´ doch wie dein Vater Robert zu mir.“
„Gut, also Robert, was kann ich für dich tun?“
„Ja, wie soll ich es sagen, Peter, ich bin mir fast sicher, dass die Kripo in Kempten und du bei der Todesursache des Kaplans Teuffel falsch liegen. Bevor ich mich allerdings an die Mordkommission wenden will, brauche ich noch eine letzte Sicherheit. Es müssen doch trotz eurer Selbstmord-Annahme Bilder vom Tatort gemacht worden sein, oder nicht?“
„Ja, natürlich. Wie ich schon gestern gesagt habe, es liegt alles in Kempten. Aber ich war ja vor ihnen in Loretto draußen. Ich habe den Toten natürlich schon vorher fotografiert.“
„Um mir einen besseren Eindruck vom Tatort machen zu können, wäre es schön, wenn du mir das Bild mal zeigen könntest.“
„Warum eigentlich nicht?“ Peter zuckt mit den Achseln. Er speichert am Computer seinen Bericht zur Körperverletzung des Unternehmers Ulrich Winterscheid und klickt dann die Bildbearbeitung an. Einige Aufnahmen rauschen durch, bis er das entsprechende Foto gefunden hat.
Robert tritt hinter den Schreibtisch und betrachtet das Bild aufmerksam. Aber er kann nichts anderes erkennen. Die Beschreibung des Pfarrers war präzise.
„Ich habe leider keinen Farbdrucker, aber in Schwarzweiß könnte ich schon eine Kopie ausdrucken.“
„Das wäre natürlich optimal“, freut sich Robert.
„Aber vom Foto im Brief habe ich keine Kopie, nur dass das klar ist.“
„Entscheidend ist dabei ja, dass das Kuvert gar nicht geöffnet war. Der Kaplan somit nichts von einem Erpresserfoto wusste.“
Peter schaltet den alten Nadeldrucker ein, druckt das Bild aus und reicht es Robert Schibulsky hinüber.
„Ich danke dir, Peter, und wünsche noch ein schönes Wochenende.“ Er wendet sich zur Tür; aber dreht sich noch einmal um: „Wisst ihr eigentlich, woher der Kaplan seine Pistole hatte?“
Peter zieht seine Achseln im Zeitlupentempo hoch und schüttelt den Kopf.
„Das hatte ich mir gedacht“, flüstert Robert so leise, dass es der Polizist nicht mehr gehört hat.
Kapitel 12 - Jauchen 21.12., mittags
Vom Polizeigebäude geht Schibulsky durch die Bahnhofshalle, die vor rund 12 Jahren das alte baufällige Gebäude ersetzte und als bester Kleinstadtbahnhof 2006 ausgezeichnet wurde. Stolz sind die Oberallgäuer auch darauf, dass die Feriengäste den südlichsten deutschen Bahnhof schon seit 1888 mit der Eisenbahn erreichen konnten.
Westlich der Halle ist der kleine Busbahnhof der Gemeinde gelegen. Robert stellt sich geduldig am Ende der wie immer langen Schlange am grünen Walserbus an. Ständig transportiert dieser Unmassen an Ski- und Snowboard-Fahrern hoch zum Söllereck oder noch weiter ins Kleinwalsertal. Eingezwängt in auf dem Rücken getragene Rucksäcke und kreuz und quer gehaltene Skibretter bzw. Stöcke warten alle, bis auch das letzte Quäntchen Platz im Bus besetzt ist. Robert hasst diesen kostenlosen Service für die Skifahrer, besonders wenn diese auf der Rückfahrt mit ihren nassen Schneeanzügen und Schneeresten von ihrer letzten Abfahrt die anderen zumeist Wandertouristen im wahrsten Sinne des Wortes „nass“ machen.
Mit fünf Minuten Verspätung startet der Bus. Nach der Durchfahrt durch den westlichen Teil der Marktgemeinde führt der Weg steil hinauf zur B 19, dann in leichten Kurven weiter hinauf zur Grenze nach Österreich.
Schibulsky steigt aber schon an der Haltestelle „Jauchen“ aus, nachdem er sich durch den Skifahrerwust gequetscht hat. Zu Fuß erklimmt er den kleinen Hügel und folgt der Straße „In der Leite“. Drei Minuten später steht er vor der Haustür der Sozialarbeiterin Dorothea Schneider, der Bekannten des Kaplans.
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