Der Kommissar füllt alle Fundstücke in kleine Plastiktüten, die er stets dabei hat, eine seiner Marotten, die er aus seiner aktiven Zeit wie eingebrannt übernommen hat, und steckt sie in seine Jackentasche.
Er schaut grimmig und schüttelt ungläubig den Kopf. Wenn sein alter Freund Endras mit seinem Mordverdacht Recht habe sollte, hätte er sich doch zum Beispiel Schleifspuren oder andere Indizien gewünscht. Fehlanzeige.
Enttäuscht verlässt Robert die Marienkapelle und stapft durch den Restschnee hinüber zur allein stehenden Appachkapelle, in der der tote Kaplan gefunden worden war. Der Name leitet sich vom Wort „Abbach“ ab. Der mittlere der drei Quellflüsse der Iller, also die Stillach, war im Mittelalter oft verheerend über ihr Flussbett getreten und hatte die Felder des Oberstdorfer Ösch und die Ernten zerstört. Da gelobten die Oberstdorfer eine Kapelle zu errichten, wenn der Fluss einen anderen Ablauf nehmen würde. Dies trat tatsächlich nach einem Bittgang mit Kreuz und Fahne ein.
Die Appachkapelle ist viel, viel kleiner als die beiden anderen. Sie wurde nachweislich bereits im Jahr 1493 geweiht. Ihr Grundriss ist ein unregelmäßiges Achteck mit Wandmalereien an drei ihrer Innenwände, die allerdings nach einigen Übertünchungen nur schwer erkennbar sind.
Zu Roberts Erstaunen ist die Eingangstür hier offen. Er betritt den nur ca. 6 m großen Raum, der in der Mitte durch drei Krippenbilder von ca. 1,50 m Höhe geteilt ist, die aus der Zeit um 1725 stammen und auf ganzer Breite den Durchgang zur barocken Holzskulptur eines Auferstehungschristus versperrt.
Direkt hinter den Stellwänden ragen drei Tannenbäume bis fast unter die Holzdecke. Robert versucht die Holzwände des Krippenbildes von der Mauer zu bewegen. Am rechten Bild, auf dem einer der drei heiligen Könige das neu geborene Jesuskind in Händen hält, hat er Erfolg. Diese Tafel lässt sich in die Mitte des Raumes drehen. Hinter der Wand hat ein einfacher Stuhl kaum Platz neben den Tannen und dem kleinen Altartisch mit einem gekreuzigten Christus am Holzkreuz.
Der Kommissar muss diese Skulptur noch einmal genau betrachten. Richtig, das ist ja der sogenannte „Auferstehungschristus“, der vor zwei Jahren gestohlen und dank seines Eingreifens wieder zurückgebracht worden war. Ein wenig Stolz steigt in ihm auf, dann setzt er seine Untersuchung fort.
Hinter dem Stuhl befindet sich ein riesiger Blutfleck, deren Spritzer sich bis hoch zum südöstlichen Fenster erstrecken. Dieser hat fast die Form eines Heiligenscheins, allerdings nicht golden wie auf fast allen Gemälden des Mittelalters. Hier muss zweifelsohne der tödliche Schuss erfolgt sein.
Robert sucht auch in dieser Kapelle nach Gegenständen, die mit dem Tod des Kaplans in Zusammenhang stehen könnten. Auf den braunen Bodenfliesen findet er genau auf der Kreuzabbildung ein ausgespucktes Kaugummi. An der rechten Stellwand hängt ein Stückchen Stoff. Beides verschwindet wieder in Roberts Folientütchen.
Das Licht seiner starken Taschenlampe zeigt auch vor den Krippenbildern leichte Blutspuren, die auf weggewischte Schuhabdrücke schließen lassen.
„So viel Arbeit hätten sich die Kripobeamten oder die Leichenträger wohl kaum gemacht“, sinniert die Spürnase und wischt das Blut in ein Papiertaschentuch.
Kapitel 4 - Schattenberg 20.12., morgens
Dorothea Schneider muss jetzt aus dem Sattel gehen. Die aktuelle Mountainbike-Vizeeuropameisterin der EM in Bern fährt den Wanderweg von der Oybele Festhalle hinauf zur Gaststätte „Kühberg“. Trotz des strahlenden Sonnenscheins ist die 25-Jährige dick vermummt mit Pudelmütze und Handschuhen.
Oben angekommen fährt sie weiter Richtung Oytal, biegt dann nach links ab und nimmt die Zufahrtsstraße zu den Skischanzen oberhalb der Erdinger Arena. Kurz vor der historischen Sportstätte, auf der jährlich, wie auch in der übernächsten Woche, das Eröffnungsspringen der Internationalen Vierschanzen-Tournee ausgetragen wird, lenkt sie ihr Spezialrad einen schmalen 21% steilen Pfad den Schattenberg hinauf. Nach 100 m führt der Weg dann nach Norden. Anschließend rast sie den Berg todesmutig wieder hinunter und stellt ihr Rad am Fahrstuhl zur Großschanze ab.
Die deutsche Nationalmannschaft der Skispringer trainiert gerade auf der Schanze, bevor die Athleten und ihre Betreuer über die Weihnachtstage für vier Tage frei bekommen. Das Oberstdorfer Nachwuchstalent Karl Geiger grüßt flüchtig zu ihr herüber. Dorothea interessiert sich im Augenblick allerdings nicht für die Sportler. Sie wartet am Fahrstuhl und macht einige Lockerungsübungen.
Um kurz vor elf nähert sich ein BMW X6 in Midnight Blue metallic. Die Luxuskarosse biegt kurz vor den Schanzen auf den Parkplatz am Hüttendorf, in dem jede Nation ihre eigene Hütte für die Springer und die Service-Leute für die Zeit der Tournee bezieht. Die drei Insassen des Fahrzeugs steigen gemächlich aus. Alle drei schauen sich in alle Richtungen um, gerade so, als fürchten sie sich beobachtet zu werden.
Und sie werden beobachtet. Dorothea hat aus ihrem Minirucksack, den sie auf den Rücken geschnallt trägt, eine kleine LUMIX-Kompaktkamera hervorgezaubert. Per Teleobjektiv sieht sie die drei Herren scharf und klar vor dem BMW und schießt ein Foto, als alle praktisch unbewusst direkt in die Kamera schauen.
Der Fahrer ist noch blutjung. Nico Winterscheid, 1,88 m groß, drahtige Figur, lange blonde Haare mit einer größeren grauen Strähne an der linken Schläfe. Mit seinen 24 Lenzen ist er Juniorchef des EUROMIX-TECHNOLOGY-Konzerns in Lindau am Bodensee. Ihn kennt Dorothea schon, er hat sich in ihren GEOCACHING-Club eingekauft, und zwar so nachdrücklich, dass er bei der letzten Wahl zum Vorsitzenden mit zwei Drittel Mehrheit gewählt wurde.
Bei dem älteren Herrn im eleganten anthrazitfarbenen Lodenmantel handelt es sich um den Justiziar der Familie zu Hohenstein und des EUROMIX Konzerns, Dr. Werner Brandenburg. Seine von einem schmalen Haarkranz umgegebene Glatze blitzt ihr richtig entgegen. Mit seinem Gamsbarthut, dem hellgrauen Leinenjanker und den unvermeidliche dunkelgrünen Haferlschuhen erkennt die BMX-Fahrerin sofort Korbinian Einödhofer, den 1. Bürgermeister der Gemeinde Oberstdorf.
Die drei verschwinden gerade im Glaszelt, das während der Wintermonate zwischen den beiden Schanzen aufgebaut ist und zu Veranstaltungen gebucht werden kann. Dorothea läuft den Hügel zum Parkplatz hinunter, bis sie die drei hinter den Glaswänden sehen kann. Sie sitzen an einem ebenfalls gläsernen Tisch, diskutieren angeregt und orientieren sich dabei ständig auf einer Landkarte. Sie hält auch das im Bild fest.
Nach fünfzehn Minuten kommen die drei wieder heraus. Dorothea kann sich gerade noch hinter die Hütte der Norweger zwängen. Am Rand des Parkplatzes bleiben die drei stehen. Winterscheid führt jetzt das Wort, Einödhofer antwortet meistens nur kurz, allerdings versteht Dorothea nur einige Wortfetzen:
„ ein großes Ding…...Steuereinnah……..steht zur Verfügung……Flächennutzungs…..kein Problem…. Parkplatz unten…. Trettach……Seilbahn für zehn……Touristen in…… ganzen Jahr….“
Dorothea Schneider hat genug gehört und vor allem gesehen. Sie läuft den Hügel hoch zum Fahrstuhl, verstaut die Kamera und schwingt sich auf ihr Mountainbike. In rasender Fahrt passiert sie mit fünfzig Metern Abstand die drei, die sie gar nicht wahrnehmen, und strebt über die Oytalstraße dem Dorfzentrum entgegen.
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