„Hörst du, Basti?“
Mühsam bewegt Sebastian seinen Kopf weg vom Bildschirm hin zur halb geöffneten Tür. „Klaro, wir schreiben morgen früh noch ´ne Mathe-Klausur. Deswegen haben wir nur wenig für Latein und Englisch aufgekriegt.“
„Du meinst aufbekommen!“
Sebastian mault leise: „Klaro, aufbekommen. Vatterns Pädagogik-Studium kommt wieder durch!“, aber laut erwidert er: „Du hast Recht; es muss aufbekommen heißen! Ich schreibe es zehnmal, mit Unterschrift der Eltern, einverstanden?“
„Würdest du bitte für uns mal im Internet nachschauen, welche Veranstaltungen unser Urlaubsort für die Weihnachtszeit zu bieten hat?“
„Geht klar, Chef! Wo hält Opa sich jetzt noch mal auf?“
„Ach Basti, das weißt du doch. Über Weihnachten sind wir alle doch immer in Oberstdorf im Allgäu. Und am Samstagmorgen fahren wir los. Also, pack deine Sachen bald!“
„Klaro, tote Hose in Oberstdorf! Hoffentlich bringen die grauen Panther wenigstens scharfe Mädels mit,“ lächelt Sebastian. Nachdem er sich bei seinen Chat-Partnern verabschiedet hat, geht er auf die Seite „ www.oberstdorf.de“. Er kopiert alles, was er für seine alten Herrschaften für interessant hält.
Plötzlich entdeckt er auf der Homepage, was ihn die nächsten Tage nicht mehr loslässt. Ein Plakat mit einer Einladung der örtlichen Geocaching-Gruppe zu einer Jubiläums-Charity:
GEOCACHING-Charity
in
OBERSTDORF
Jubiläumsrallye der „ALLGÄU-PIRATEN“
zum fünfjährigen Bestehen
am Montag, 30.12.2013
EINLADUNG
an alle Geocaching-Clubs Deutschlands,
besonders auch an die Feriengäste in Oberstdorf
Teilnahme: 250.- €/Person
Hauptpreis: DREI PFUND GOLD

Zusätzlich: 3.000 €
Beginn: 17:17 Uhr Ende: 20:59 Uhr
Jeder Teilnehmer erhält zu diesem Zeitpunkt eine Email mit den GPS- Koordinaten und den Aufgaben an der 1. Station.
Anmeldung: a) bis zum 23.12.2013:
per Einzahlung auf das Konto:
„ALLGÄU-PIRATEN“
Konto: 999 875 222 0
BLZ: 733 500 00
Sparkasse Allgäu
Stichwort: GPS mit „Name“ und „Email-Adresse“
b) bis zum 28.12.2013:
per Barzahlung im Oberstdorf Haus
Let`s find the cache …..
Sebastian druckt seine Recherchen aus und springt die Treppe hinunter. Seine Mutter Vera ist inzwischen auch aus der Firma zurück und betrachtet sich kritisch im Flurspiegel.
„Schlank? – Ja. Jung? – Nein. Begehrenswert?“ Zum Glück begrüßt sie ihr Sohn, bevor sie die Antwort formulieren kann.
„Hallo, Muttern.“ Er küsst sie auf ihre rechte Wange. „Ich habe euch ein paar Veranstaltungen in Oberstdorf und Umgebung herausgesucht.“
Vera sieht abgespannt und wirklich urlaubsreif aus. „Schön, schön, Basti. Habt ihr was zu essen gemacht?“
„Es müsste noch Pizza im Gefrierschrank sein.“
Frederik erscheint in der Wohnzimmertür. „Ach lasst mal die blöde Pizza. Ich habe uns einen Tisch bei Mövenpick reservieren lassen.“
Vera nickt teilnahmslos: „Schön, schön. Aber ich brauche erst mal ein heißes Bad.“ Sie dreht sich zur Treppe und will nach oben gehen.
„Ach, habt ihr schon Weihnachtsgeschenke für Britta und mich?“, fragt der Pennäler spitzbübisch.
Frederik blickt fragend zu Vera hinüber: „Haben wir?“
Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Natürlich haben wir! Warum fragst du?“
Sebastian druckst herum und flüstert fast: „Auf der Oberstdorf-Seite im Internet kündigen die ein Gewinnspiel für Schatzsucher zu Wohltätigkeitszwecken an. Die Teilnahme kostet allerdings 250 €.“
Vera steigt die Treppe hinauf. „Und du meinst, ich soll dir die Teilnahme finanzieren, richtig, Basti?“
„Ätzend, dass ich so ´ne schlaue Mutter habe. Und Britta will doch bestimmt auch mitmachen.“
„Aber nur gegen Spendenquittung, mein Sohn. Leg mir die Anmeldung für euch auf meinen Schreibtisch.“
Kapitel 3 - Loretto 20.12., morgens
Die Sonne lacht weiterhin von einem fast makellos blauen Himmel. In der Nacht war die Temperatur auf - 5° C herunter gegangen. Raureif hat sich wieder auf die Dächer und Gärten der Nachbarschaft gelegt.
Kurz vor zehn Uhr verlässt Robert Schibulsky seine Wohnung in der Nähe des Oberstdorfer Bahnhofs. Nach wenigen Minuten erreicht er gerade noch den Bus nach Birgsau. Dicht gedrängt quetschen sich schon jetzt die Skifahrer mit ihren Brettern und Stöcken in den Bus, der sie zur Fellhornbahn bringt. Nicht einmal zehn Minuten später steht der Hauptkommissar AD vor den drei Lorettokapellen im Süden des Marktortes. Diese bilden laut Broschüre der Kirchengemeinde „ein einzigartiges Ensemble der süddeutschen Sakralarchitektur“. Rechts, das bedeutet im Süden, befindet sich die jüngste und größte der drei Kapellen: die Josefskapelle, die 1671 errichtet wurde.
Robert öffnet die unverschlossene Holztür. Doch nach drei Schritten versperrt ein Eisengitter seinen Weg in die rechteckige Kapelle. Sein Blick schweift kurz von rechts nach links. Er erkennt den wertvollen Palmesel aus dem Jahr 1729, der erst seit gut hundert Jahren aus der Pfarrkirche im Ort hierher gebracht und aufbewahrt wird, und den Hochaltar an der gegenüberliegenden Nische mit der Abbildung der Heiligen Familie, bei der neben der Jungfrau Maria der heilige Josef ins Zentrum rückt. Über dem Bild erinnert Robert eine Inschrift an den eigentlichen Grund seines morgendlichen Ausflugs: „MORTEM MORIENDO DESTRUXIT“ – „Durch seinen Tod hat er den Tod vernichtet.“
Robert verlässt die Kapelle und biegt nach rechts zur mittleren Kapelle, die diesem Ort den Namen gegeben hat: Maria Loretto. Die Flur, auf der die Gotteshäuser gebaut wurden, soll der Überlieferung nach einer vornehmen Dame namens Loretha gehört haben.
„Hier bist du richtig!“, denkt sich Robert. Eine weiße Tafel vor dem Eingang bestätigt ihn. Sie verkündet allen Interessierten, dass in dieser Marienkapelle samstags um 9:00 Uhr und dienstags um 19:00 Uhr die Messe gelesen wird. Erwartungsfroh betritt er durch eine niedrige Seitentür einen Vorraum, von dem man eine stets geschlossene Tür zum Inneren der mittleren Kapelle aufdrücken kann.
Der Innenraum der 1657 errichteten Kapelle ist sonnendurchflutet durch die großen Fenster, deren Eisengitter ihre Schatten auf den Mittelgang werfen. Die Form eines regelmäßigen Achtecks ist gut zu erkennen. Rechts und links des Ganges stehen je acht Reihen Holzbänke; die insgesamt zirka hundert Gläubigen Platz bieten. Am Ende des Mittelganges versperrt ein massives und reich geschmiedetes Eisengitter den Zugang zum Altarraum. In der Mitte befindet sich eine Tür, die jetzt mit einem dicken Schloss gesichert, aber während einer Messe sicherlich geöffnet wird. Dahinter erstrahlt der prachtvolle Rokokohochaltar von 1741. Zentral ist das altehrwürdige Gnadenbild eingefügt, die bekleidete Madonnenfigur, die ursprünglich um 1500 entstand und auf dem Altar der benachbarten älteren Appachkapelle stand.
Schibulsky schaut sich anschließend intensiv im Zuhörerbereich um. Da die Kapelle seit dem Tod des Kaplans nicht mehr gereinigt worden zu sein scheint, hofft er, vielleicht noch etwas Verdächtiges zu finden. Trotz Einsatz von Taschenlampe und Handfeger, den der Kommissar im Vorraum gefunden hat, stellt sich als einzige Ausbeute einige unter die Bänke geklebte Kaugummis, eine wohl aus Versehen herausgerissene Ecke einer Gebetbuchseite 126/127 und ein grüner Schraubverschluss einer kleinen Flasche ein, die er in der rechten vorderen Ecke fand, über der auf einem Gemälde die seit 1665 stattfindende Wallfahrt aus dem Tiroler Lechtal dargestellt ist.
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