„Ich sag dir, mit dem Selbstmord vom Kaplan stimmt was nicht“, ereifert sich der Toni.
„Mach´ mal halb lang, Toni. Du siehst doch schon wieder Gespenster.“ Der Konditor drückt seine Hände beruhigend auf Tonis Schulter. Der nimmt in diesem Augenblick Robert wahr und wendet sich rasch dem erwarteten Freund zu. Die beiden ausrangierten Gesetzeshüter umarmen sich herzlich.
„Na, Toni, wie geht´s dir? Gut schaust du aus.“ Der Alte muss sich eine winzige Träne verkneifen.
„Schön, Robert, dich zu sehen.“ Toni betrachtet Robert anerkennend und mit einem breiten Grinsen. „Wie immer: typisch Urlauber, braun gebrannt und ganz entspannt. Dich haben sie auch zu früh aus dem Dienst gelassen.“ Toni zeigt deutlich seine Missachtung, schüttelt aber, um nicht missverstanden zu werden, lächelnd den Kopf.
Die beiden lassen den Konditor unbeachtet links stehen und gehen zu ihrem Stammtisch.
„Du sagtest am Telefon, dass du allein gekommen bist. Was ist denn mit der Kerstin?“
„Alles in Ordnung. Zuerst wollte sie ja auch gleich am 15. Dezember mitfahren. Aber dann hat sie ihr Heimleiter doch wie immer so lange bequatscht, dass sie jetzt doch wieder die Weihnachtsfeier und die Messe für die Heimkinder gestaltet. Sie kommt am 1. Weihnachtstag mit unserem Twingo nach.“
„Ach, habt ihr jetzt auch einen Hund? Du wolltest doch nie einen.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na, Twingo ist doch bestimmt ein Hundename, bestimmt so ein putziges Schoßhündchen, oder? So wie unser Bingo.“
„Scherzbold, das ist doch unser Wagen. Echte französische Wertarbeit, mit Schiebedach.“
„Und deshalb bist du gestern mit der Bahn gekommen?“
„Genau, alte Spürnase. Nachdem klar war, dass Kerstin nicht vor Heiligabend fährt, habe ich mir im Internet schnell noch ein Sparticket für 29 Euro besorgen können. Und so bin ich schon hier und bleibe fast vier Wochen.“
Die beiden tauschen danach ihre Krankheitsgeschichten aus und genießen ihre Marzipantorte. Als Diabetiker hat Robert schon in weiser Voraussicht ein paar Einheiten Insulin mehr gespritzt.
Jetzt kreist ihm aber immer wieder das Gespräch im Kopf herum, das sein Freund mit dem Cafébesitzer bei seiner Ankunft geführt hatte. Bei seinem zweiten Bissen platzt es deshalb aus ihm heraus, nicht ohne einen Teil der Torte dabei auf das Tischtuch zu spucken:
„Geh´, Toni, hast du vorhin …. „Entschuldigung!“ Er wischt den Kuchenspritzer mit der rechten Hand vom Tisch und schaut seinen Freund mit verkniffenen Augen an.
„Dafür ist der Kuchen aber zu teuer, um ihn auszuspeien“, freut sich Toni.
„Hast du vorhin über den jungen Kaplan hier aus Oberstdorf gesprochen, der bei Pfarrer Altmayer angefangen hat, als ich vor fünf Jahren hier zur REHA war?“
„Über genau den?“
„Wie hieß der gleich noch mal.“
„Teuffel, Marc Teuffel, der war gerade mal 30 Jahre.“
„Und der soll Selbstmord begangen haben?“
„Pst, Robert, leise, leise.“ Toni schaut sich dabei vorsichtig im Raum um, ob einer der Gäste etwas mitbekommen hat. Er flüstert weiter: „Hier im Dorf weiß eigentlich noch keiner, woran der Teuffel gestorben ist.“
Robert nickt verständnisvoll und flüstert zurück: „Ich erinnere mich, dass er aus Weißrussland stammte, oder irre ich mich?“
„Der Altmayer will die Geschichte möglichst unter der Decke halten. Und der Kommissar aus Kempten geht genauso wie mein Sohn Peter von Selbstmord aus.“
„Ja, aber der Kaplan war doch ein äußerst lebenslustiger Mensch mit offen zur Schau gestellter Lebensfreude.“
„Siehst du, Robert, dasselbe sag´ ich ja auch. Zumal ich ihn noch kurz vor seinem Tod gesehen habe. Teuffel hielt vor zwei Wochen die Messe in der Kapelle St. Maria Loretto. Ich war dabei. Mit strahlenden Augen hatte der Kaplan in seiner kurzen Predigt die Besucher zu mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern aufgerufen. Und zwei Stunden später war er dann tot. – Am nächsten Morgen wurde er natürlich im Pfarrhaus vermisst, und gegen Mittag haben sie den toten Kaplan hinter der Krippenwand in der kleinen Appachkapelle gefunden. Mit einem Pistolenschuss in den Mund saß er wohl auf einem Stuhl neben dem Holzkreuz, mit der Pistole in der rechten und einem Abschiedsbrief in der linken Hand.“
Robert wundert sich: „Verdorri nochmal, Toni, woher weißt du das denn alles? Warst du etwa dabei?“
„Von meinem Sohn halt, mein Peter ist doch Polizeiobermeister hier im Ort.“
Robert denkt an seine positiven Begegnungen mit dem Kirchenmann und schüttelt den Kopf. Er sieht den Kaplan leiblich vor sich stehen, wie er gerade die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde begeistert und aktiviert hat. Sie kamen zu seinen Jugendtreffs, insbesondere zum kostenlosen Internet-Café, das der Kaplan schon sofort nach seinem Amtsantritt in der Pfarrei eingerichtet und mit den Jugendlichen selbst aufgebaut hatte. Marc Teuffel machte allen Blödsinn mit den Kindern mit, spielte sogar Fußball mit ihnen oder ging mit zum Jogging.
„Aber du hast Zweifel, dass es sich um Selbstmord handelt?“ Robert studiert dabei den Gesichtsausdruck seines Freundes.
„Ich bin mir sicher, dass da was nicht stimmt. Das sagt mir mein Gefühl, und das hat mich ein Leben lang nur ganz selten betrogen.“ Toni erhebt zaghaft die rechte Hand mit drei gestreckten Fingern, wie zu einem Schwur, und schaut seinem Freund ebenso tief in die Augen.
Robert merkt sofort, dass er sein Versprechen, das er seiner Frau Kerstin gegeben hatte, auch bei diesem Urlaub nicht einhalten wird. So verspricht er Toni Endras, sich einmal die Lorettokapellen näher anzuschauen.
Kapitel 2 - Bielefeld 19.12., abends
Sebastian hat den ganzen Nachmittag Mathematik gebüffelt. Der 19-Jährige geht seit drei Jahren in die Oberstufe des Max-Planck-Gymnasiums in Bielefeld; seine Fachoberschulreife mit Qualifikation hat er zuvor wie seine ältere Schwester Britta in der Hauptschule gemacht. Morgen steht noch die dritte Arbeit der Abiturklasse an. Analysis – wann soll man das denn mal gebrauchen können?
„Ätzend!“, denkt Sebastian, „dasselbe wie in jedem Jahr, immer kurz vor den Ferien. Eine Arbeit folgt der anderen. Wahrscheinlich haben die Pauker sonst über Weihnachten nicht genug Beschäftigung.“
Jetzt sitzt er vor seinem Laptop und chattet mit anderen Kids aus seiner Klasse. „Haste schon gehört?“, lautet jeder vierte Eintrag, und dann wird auf Teufel komm raus mit neuen Wortschatzerweiterungen des Internets herumgeworfen: like oder lol!
„Ätzend“, denkt Sebastian wieder, „wie die alten Schwimmerinnen, die früh morgens in breiter Front ihre Bahn im Hallenbad ziehen. Da geht’s dann auch immer: „Habense schon gehört?“
Im Wohnzimmer im Parterre rumort sein Stiefvater herum. Frederik. Der ist gerade aus der Firma nach Hause gekommen. MERCEDES UNGERN – Autos mit dem Stern – na das ist ja ein Super-Slogan, steht sogar auf dem Firmenlogo. Bei diesem Gedanken muss Sebastian stets zwangsläufig kopfschüttelnd lachen. Peinlich, peinlich.
Frederik ist jetzt 40 Jahre alt, schaut sogar noch jünger aus. Er hat ursprünglich Studienrat werden wollen, hat aber nach seinem ersten Praktikum schnell erkannt, dass er mit Schülern überhaupt nicht klar kommt. Er hat schnell die Reißleine gezogen und eine Lehre bei Mercedes als Einzelhandelskaufmann abgeschlossen. Dann gewann er das Herz der sechs Jahre älteren Tochter seines Chefs, die von ihrem ersten Mann mit zwei Kindern sitzen gelassen worden war.
Als Frederik bei der ihm angetragenen Hochzeit allerdings auch den Nachnamen seiner Braut annehmen sollte, streikte er und sagte stets: „Ungern würde ich Ungern heißen, mir reicht da schon der Firmenname.“
„Du, Basti, bist du mit den Schularbeiten fertig? Und hast du deinen Koffer schon gepackt?“, schreit Frederik plötzlich in die Stille. Sebastian hört es, aber kann sich noch nicht zu einer Antwort durchringen.
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