Die Zurückgebliebenen aber, die Ärmsten, die Härtesten und die Mutigsten, fühlten sich irgendwie zusammengehörig, und das schlimme war, daß sie eben doch nicht zusammengehörten: Sie waren entweder Kommunisten oder Nazis, und so gab es ewig Krach und Schlägerei.
Pinneberg hatte sich noch immer weder für das eine noch für das andere entscheiden können, er hatte gemeint, am leichtesten würde es sein, so durchzuschlüpfen, aber manchmal schien gerade das am schwersten.
In einigen Lauben wurde eifrig gesägt und gehackt, das waren die Kommunisten, die mit Krymna auf der Nachttour gewesen waren. Sie machten das Holz rasch klein, damit der Landjäger, wenn er doch einmal kontrollierte, nichts feststellen konnte. Wenn Pinneberg höflich »Guten Tag« sagte, so sagten sie »Tag«, trocken oder brummig, aber alle nicht sehr freundlich. Sicher waren sie böse mit ihm. Pinneberg machte sich Sorgen.
Endlich kamen sie in den eigentlichen Ort mit langen, gepflasterten Straßen und vielen kleinen Villen. Pinneberg machte den Halteriemen der Karre los und sagte zum Murkel: »Steig aus! Steig aus!«
Der Murkel sah seinen Vater an, und in seinen blauen Augen saß der Schelm.
»Steig aus«, sagte Pinneberg wieder. »Schieb deinen Wagen.«
Der Murkel sah den Vater an, streckte ein Bein aus dem Wagen, lächelte und zog das Bein wieder zurück.
»Steig aus, Murkel«, mahnte Pinneberg.
Der Murkel legte sich zurück, als wollte er schlafen.
»Schön«, sagte Pinneberg. »Dann geht Pepp-Pepp allein weiter.«
Der Murkel blinzelte, rührte sich aber nicht.
Langsam ging Pinneberg weiter, ließ die kleine Karre mit dem Kind hinter sich. Er ging zehn Schritte, zwanzig Schritte: nichts. Er ging ganz langsam noch zehn Schritte, da rief das Kind laut: »Pepp-Pepp! Pepp-Pepp!«
Pinneberg drehte sich um: Der Murkel war aus dem Wagen gestiegen, aber er machte noch keine Anstalten, dem Vater zu folgen, er hielt den Halteriemen hoch und verlangte, der Vater sollte ihn festmachen.
Pinneberg ging zurück und tat es. Nun war der Ordnungssinn des Jungen befriedigt, neben dem Vater schob er eine lange Zeit die Karre. Nach einer Weile kamen sie über eine Brücke, unter der ein ziemlich breiter, rasch strömender Bach durch eine Wiese floß. Vor und hinter der Brücke konnte man über eine Böschung hinunter auf die Wiese kommen.
Pinneberg ließ den Wagen oben stehen, faßte den Murkel bei der Hand und kletterte mit ihm die Böschung zum Bach hinunter. Es war vom Regen viel Wasser im Bach, er war nicht sehr klar und strömte mit vielen Schaumwirbeln in seinem Bett.
Den Murkel an der Hand, trat Pinneberg an das Bachbett, und sie sahen beide lange stumm auf das strömende, eilige Wasser. Nach einiger Zeit sagte Pinneberg: »Das ist das Wasser, mein Murkel, das gute, liebe Wasser.«
Das Kind stieß einen leisen, kleinen, beifälligen Laut aus. Pinneberg wiederholte seinen Satz mehrere Male, und immer war der Murkel zufrieden, daß es ihm der Vater noch einmal gesagt hatte.
Dann aber schien es Pinneberg unrecht, daß er so groß neben dem Kinde stand und Belehrungen erteilte, er hockte sich nieder und sagte wieder: »Das ist das gute, liebe Wasser, mein Murkel.«
Als das Kind sah, daß der Vater sich niederhockte, meinte es wohl, das gehörte dazu, und es hockte sich auch nieder. Und so sahen die beiden eine Weile in Hockstellung dem Wasser zu. Dann gingen sie weiter. Der Murkel war es müde, seinen Wagen zu schieben, er ging allein. Zuerst eine Weile neben dem Vater und dem Wagen, dann fand er etwas, das er besehen konnte, Hühner oder ein Schaufenster oder einen eisernen Schleusendeckel, der zwischen all dem Steinpflaster auffällig war.
Pinneberg wartete eine Weile, dann ging er langsam weiter, und dann blieb er wieder stehen und rief und lockte den Murkel. Der kam eifrig zehn Schrittchen nachgelaufen, lachte den Vater an, machte kehrt und lief wieder zu seinem Eisendeckel zurück.
So ging es ein paar Male, bis der Vater sehr weit vorausgekommen war, viel zu weit schien es dem Murkel. Der rief dem Vater nach, aber der Vater ging immer weiter. Das Kind stand da, es trat auf seinen kleinen Beinchen hin und her, es war sehr eifrig. Es tat einen Griff nach dem Rand seiner Pudelmütze und zog sich die mit einem Ruck ins Gesicht, so daß es nichts mehr sah. Dabei schrie es ganz laut: »Pepp-Pepp!«
Pinneberg sah sich um. Da stand sein kleiner Sohn mitten auf der Straße, die Mütze über seinem ganzen Gesicht, und taperte mit seinen Beinchen hin und her, jeden Augenblick im Begriff zu fallen. Pinneberg lief und lief, daß er schnell genug hinkam, sein Herz klopfte sehr, er dachte: Anderthalb Jahre, und nun ist er von allein darauf gekommen. Macht sich blind, daß ich ihn holen muß.
Er zog dem Kind die Mütze aus dem Gesicht, der Murkel strahlte ihn an. »Was bist du für ein Schalksnarr, Murkel, was für ein Narr!«
Pinneberg sagte es immer wieder, er hatte Tränen der Rührung in den Augen.
Nun kamen sie in die Gartenstraße, wo der Fabrikant Rusch wohnte, von dessen Frau Lämmchen seit drei Wochen sechs Mark zu bekommen hatte. Pinneberg wiederholt sich sein Versprechen, daß er keinen Krach machen will, er nimmt sich fest vor, er macht keinen, und dann zieht er die Klingel.
Die Villa liegt in einem Vorgarten, etwas zurück von der Straße, es ist eine hübsche, große Villa, und dahinter ein hübscher, großer Obstgarten. Pinneberg gefällt das.
Er sieht sich alles gut an, und dann merkt er langsam, daß niemand auf sein Klingeln sich rührt, und er klingelt wieder.
Jetzt geht ein Fenster in der Villa auf, und eine Frau ruft zu ihm: »Was wollen Sie denn? Wir geben nichts!«
»Meine Frau ist bei Ihnen zum Flicken gewesen«, sagt Pinneberg. »Ich will die sechs Mark holen.«
»Kommen Sie morgen wieder«, ruft die Frau zurück und macht das Fenster zu.
Pinneberg steht ein Weilchen und überlegt, wieviel Spielraum ihm das Versprechen an Lämmchen läßt. Der Murkel sitzt ganz still in seinem Wagen, sicher spürt er, daß der Vater böse ist.
Dann drückt Pinneberg den Klingelknopf wieder, er drückt sehr lange. Aber nichts rührt sich. Pinneberg denkt wieder nach, er will schon gehen, aber dann erinnert er sich, was achtzehn Stunden Flicken und Stopfen heißt, und er setzt seinen Ellbogen fest auf den Klingelknopf. So steht er eine lange Zeit, manchmal kommen Leute vorbei und sehen ihn an. Aber er bleibt stehen, und der Murkel tut keinen Mucks.
Nun geht das Fenster doch wieder auf, und die Frau schreit: »Wenn Sie nicht sofort von der Klingel fortgehen, rufe ich den Landjäger an.«
Pinneberg nimmt den Ellbogen vom Klingelknopf und schreit zurück: »Das tun Sie man! Dann sage ich dem Landjäger …«
Aber das Fenster ist schon wieder zu, und so fängt Pinneberg wieder an zu klingeln. Er ist immer ein sanfter, friedfertiger Mensch gewesen, aber das gibt sich nun langsam. Es wäre zwar in seiner Lage ganz falsch, wenn er mit dem Landjäger zu tun bekäme, aber auch das ist ihm nun egal. Reichlich kalt ist es für den Murkel so lange im Wagen, aber auch das hilft nichts: Hier steht der kleine Mann Pinneberg und klingelt beim Fabrikanten Rusch. Er will seine sechs Mark haben, darauf versteift er sich, und er wird sie kriegen.
Die Haustür geht auf, und die Frau kommt auf ihn zu. Sie ist wütend. Sie hat zwei Doggen an der Leine, eine schwarze und eine graue, die bewachen wohl sonst nachts Grundstück und Haus. Die Tiere haben kapiert, daß da ein Feind ist, sie zerren an ihren Leinen und knurren bedrohlich.
»Ich lasse die Hunde los«, sagt die Frau. »Wenn Sie nicht sofort machen, daß Sie wegkommen!«
»Sechs Mark kriege ich von Ihnen«, sagt Pinneberg.
Die Frau wird noch wütender, als sie sieht, daß auch das mit den Hunden nichts hilft, denn sie kann die Hunde ja nicht wirklich loslassen. Sie wären gleich über das Gitter und hätten den Mann zerfleischt. Und der Mann weiß das ebensogut wie sie.
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