»Herr Schlüter«, bittet Pinneberg und legt die Hand auf den Arm des Schauspielers, der gehen will, »wir haben von der Firma eine Quote, wir müssen für soundsoviel verkaufen, sonst werden wir entlassen. Mir fehlen noch fünfhundert Mark. Bitte, bitte, kaufen Sie was. Sie wissen doch, wie uns zumute ist! Sie haben es doch gespielt!«
Der Schauspieler nimmt die Hand des Verkäufers von seinem Arm. Er sagt sehr laut: »Hören Sie mal, Jüngling, das verbitte ich mir, daß Sie mich hier anfassen. Das geht mich einen Dreck an, was Sie mir da erzählen.«
Plötzlich ist Herr Jänecke da, jawohl, nun kommt er. »Bitte sehr! Ich bin der Abteilungsleiter.«
»Ich bin der Schauspieler Franz Schlüter …«
Herr Jänecke verbeugt sich.
»Komische Verkäufer haben Sie hier. Die notzüchtigen einen ja, damit man Ihnen Ihr Zeugs abkauft. Der Mann behauptet, Sie zwingen ihn dazu. Man müßte darüber schreiben, in den Zeitungen, das sind ja Erpressermethoden …«
»Der Mann ist ein ganz schlechter Verkäufer«, sagt Herr Jänecke. »Er ist schon mehrfach verwarnt. Ich bedaure außerordentlich, daß Sie gerade an ihn geraten sind. Wir werden den Mann nun entlassen, er ist unbrauchbar.«
»Das ist ja nun nicht gerade nötig, mein lieber Herr, das verlange ich gar nicht. Allerdings hat er mich angefaßt …«
»Er hat Sie angefaßt? Herr Pinneberg, gehen Sie sofort auf das Personalbüro und lassen Sie sich Ihre Papiere geben. – Und was das Geschwätz mit der Quote anlangt, Herr Schlüter, alles gelogen! Gerade vor zwei Stunden habe ich diesem Herrn erst gesagt, wenn er’s nicht schafft, schafft er’s eben nicht, das ist nicht so schlimm. Ein unfähiger Mann, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Schlüter.«
Pinneberg steht da und sieht den beiden nach.
Er steht da und sieht ihnen nach.
Alles, alles ist zu Ende.
NACHSPIEL
Alles geht weiter
46
Soll man Holz stehlen? Lämmchen verdient groß und gibt ihrem Jungen Beschäftigung
Nichts ist zu Ende: Das Leben geht weiter. Alles geht weiter. Es ist November, es ist das Jahr darauf, vor vierzehn Monaten machte Pinneberg bei Mandel Feierabend. Es ist ein dunkler, kalter, nasser November, gut, wenn das Dach heil ist. Das Laubendach ist heil, Pinneberg hat es geschafft, er hat das Dach vor vier Wochen frisch geteert. Jetzt ist er wach geworden, das Leuchtzifferblatt des Weckers zeigt drei viertel fünf. Pinneberg lauscht auf den Novemberregen, der auf das Laubendach prasselt und trommelt. Hält dicht, denkt er. Habe ich fein hingekriegt. Hält dicht. Regen kann uns jedenfalls nichts tun.
Er will sich befriedigt umdrehen und weiterschlafen, da fällt ihm ein, daß er von einem Geräusch wach geworden ist: Die Gartentür hat gequietscht. Also wird Krymna gleich klopfen! Pinneberg faßt Lämmchen, die im engen Eisenbett neben ihm liegt, beim Arm, er versucht, sie sachte zu wecken. Aber sie fährt doch zusammen: »Was ist los?«
Lämmchen hat nicht mehr das fröhliche Wachwerden von ehemals; wenn man sie außer der Zeit weckt, wird es schon etwas Schlechtes sein. Pinneberg hört sie hastig atmen: »Was ist los?«
»Leise!« flüstert Pinneberg. »Sonst wird der Murkel wach. Es ist noch nicht fünf.«
»Was ist denn?« fragt Lämmchen wieder und ist etwas ungeduldig.
»Krymna kommt«, flüstert Pinneberg. »Soll ich nicht vielleicht doch mitgehen?«
»Nein, nein, nein«, sagt Lämmchen leidenschaftlich. »Das ist ausgemacht, hörst du! Nein! Mit Stehlen fangen wir gar nicht erst an. Ich will das nicht …«
»Aber …«, wendet Pinneberg ein.
Es klopft draußen.
»Pinneberg!« ruft eine Stimme. »Kommst du mit, Pinneberg?«
Pinneberg springt auf, einen Augenblick steht er zweifelnd. »Also …«, fängt er an und lauscht.
Aber Lämmchen antwortet nicht.
»Pinneberg! Mensch! Penner!« ruft der draußen.
Pinneberg tastet sich im Finstern auf die Veranda, durch die Glasscheiben sieht er den dunklen Umriß des anderen.
»Na endlich! Kommst du mit oder nicht?«
»Ich …«, ruft Pinneberg durch die Tür, »… ich möchte …«
»Also nein.«
»Versteh schon, Krymna, ich würde, aber meine Frau … Du weißt doch, Frauen …«
»Also nein!« brüllt Krymna draußen. »Denn nicht! Gehen wir eben alleine!«
Pinneberg sieht ihm nach. Er kann gegen den etwas helleren Himmel die klobige Gestalt von Krymna erkennen. Dann quietscht die Gartentür wieder, und Krymna ist von der Nacht verschluckt.
Pinneberg seufzt noch einmal. Ihm ist sehr kalt, daß er hier im Hemd steht, kann nicht gut sein. Aber er steht da und starrt.
Drinnen ruft der Murkel: »Pepp-Pepp! Memm-Memm!«
Leise tastet sich Pinneberg in das Zimmer zurück. »Murkel muß schlafen«, sagt er. »Murkel muß noch ein Weilchen schlafen.«
Das Kind atmet tief auf, der Vater hört, wie es sich im Bett zurechtlegt.
»Püpping«, flüstert er leise. »Püpping …«
Pinneberg müht sich im Dunkeln, die kleine Gummipuppe zu finden. Der Murkel muß sie beim Einschlafen in der Hand halten. Er findet die Puppe. »Hier, Murkel, ist Püpping. Halt Püpping gut fest. Nun schlaf schön ein, mein Murkel!«
Das Kind stößt einen Laut aus, befriedigt, glücklich, gleich wird es eingeschlafen sein.
Auch Pinneberg geht wieder ins Bett, er bemüht sich, da er so kalt ist, jede Berührung mit Lämmchen zu vermeiden, er will sie nicht erschrecken.
Da liegt er nun, er kann nicht mehr einschlafen, es lohnt sich auch nicht mehr recht. Er denkt über alles mögliche nach. Ob Krymna sehr wütend ist, daß Pinneberg nicht mit ihm zum »Holzholen« gegangen ist, und ob Krymna ihm sehr schaden kann in der Siedlung. Dann, woher sie das Geld nehmen für die Briketts, da sie nun kein Holz kriegen. Dann, daß er heute nach Berlin rein muß, heute wird Krisen gezahlt. Dann, daß er auch zu Puttbreese muß, der kriegt wieder sechs Mark. Der braucht das Geld auch nicht, er vertrinkt es nur, es ist um wild zu werden, wozu Leute Geld verwenden, das andere so nötig brauchen. Dann denkt Pinneberg daran, daß Heilbutt heute auch seine zehn Mark haben muß, und schon ist die Krisenunterstützung alle. Woher Essen, Heizung für die nächste Woche zu nehmen ist, das weiß der liebe Himmel, aber der weiß es wahrscheinlich auch nicht …
So geht es nun Wochen und Wochen, Monat und Monat … Es ist das trostloseste, daß es ewig so weitergeht. Hat Pinneberg einmal gedacht, daß es zu Ende ist? Das schlimmste ist, daß es weitergeht, immer, immer so weitergeht … es ist nicht abzusehen.
Allmählich wird Pinneberg warm und schläfrig. Er wird doch noch eine Ecke Schlaf abreißen. Schlaf lohnt immer. Und dann klingelt der Wecker: Es ist sieben Uhr. Pinneberg ist gleich wach, auch der Murkel ruft eifrig: »Ticktack! Ticktack! Ticktack!« Immer wieder, bis der Wecker abgestellt ist. Lämmchen schläft weiter.
Pinneberg brennt die kleine Petroleumlampe mit dem blauen Glasschirm an, jetzt geht der Tag los, die erste halbe Stunde hat er viel zu beschicken. Er läuft hin und her, jetzt ist er in den Hosen, der Murkel ruft nach »Ka-Ka«. Päppchen bringt ihm die Ka-Ka, das schönste Spielzeug, eine Zigarettenschachtel voll alter Spielkarten. Im kleinen Kanonenofen brennt das Feuer, nun auch im Herd, er läuft nach Wasser zu der Pumpe, die im Garten steht, er wäscht sich, er brüht den Kaffee auf, er schneidet Brot ab, schmiert es – Lämmchen schläft noch.
Denkt Pinneberg dabei an den Film, den er einmal – lang, lang ist’s her – sah? Auch da lag die Frau im Bett, sie schlief rosig, der Mann lief und besorgte – ach, Lämmchen ist nicht rosig, Lämmchen muß den ganzen Tag arbeiten, Lämmchen ist blaß und müde, Lämmchen balanciert den Etat aus. Es ist alles ganz anders.
Pinneberg zieht den Jungen an. Dabei sagt er hinüber zum Bett: »Jetzt wird es Zeit für dich, Lämmchen.«
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