»Sie werden wohl warten gelernt haben«, sagt sie.
»Hab ich«, sagt Pinneberg und bleibt stehen.
»Sie sind doch arbeitslos«, sagt die Frau verächtlich, »das sieht man doch. Ich zeige Sie an. Den Nebenverdienst von Ihrer Frau müssen Sie melden, das ist Betrug.«
»Schön«, sagt Pinneberg.
»Einkommensteuer und Krankenkasse und Invalidengeld zieh ich Ihrer Frau auch noch ab«, sagt die andere und beschwichtigt die Hunde.
»Das tun Sie«, sagt Pinneberg. »Dann bin ich morgen hier und verlange die Quittungen von Finanzamt und Krankenkasse zu sehen.«
»Ihre Frau soll mir noch einmal kommen nach Arbeit!« ruft die Frau.
»Macht sechs Mark«, sagt Pinneberg.
»Sie sind der unverschämteste Flegel!« sagt die Frau. »Wenn mein Mann nur da wäre …«
»Er ist aber nicht da«, sagt Pinneberg.
Und da sind die sechs Mark. Da liegen sie, drei Zweimarkstücke, oben auf dem Gitter. Pinneberg kann sie noch nicht gleich nehmen, die Frau muß erst zurück mit ihren Hunden. Dann nimmt Pinneberg sie.
»Ich danke auch schön«, sagt er und zieht seinen Hut.
»Gä! Gä!« ruft der Murkel.
»Ja, Geld!« ruft Pinneberg. »Geld, Murkelchen. Und jetzt gehen wir nach Haus.«
Er dreht sich nicht mehr um nach Frau und Villa, er schiebt langsam los mit seiner Karre, er ist wüst und müde und traurig.
Der Murkel schwatzt und ruft.
Ab und zu antwortet der Vater auch, aber es ist nicht das Rechte. Und schließlich wird auch der Murkel still.
Warum Pinnebergs nicht wohnen, wo sie wohnen. Bilderzentrale Joachim Heilbutt. Lehmann ist abgesägt!
Zwei Stunden später hat Pinneberg für sich und den Murkel Essen gekocht, sie haben es gemeinsam verspeist, dann ist der Murkel ins Bett gebracht worden, und nun steht Pinneberg hinter der angelehnten Küchentür und wartet, daß das Kind einschläft. Es will noch nicht, immer wieder ruft und lockt es: »Pepp-Pepp!«, aber Pinneberg steht stockstill und wartet.
Es wird langsam Zeit, daß er zur Bahn kommt, den Einuhrzug muß er fassen, wenn er pünktlich zur Auszahlung seiner Krisenunterstützung sein will, und der Gedanke, unpünktlich zu sein, und sei es mit dem besten Grund der Welt, ist einfach grotesk.
Immer noch ruft der Murkel: »Pepp-Pepp!«
Natürlich könnte Pinneberg gehen. Er hat das Kind ja angebunden in seinem Bettchen, es kann ihm gar nichts passieren, aber ruhiger geht man doch, wenn der Murkel schläft. Es ist nicht ganz leicht, sich vorzustellen, daß das Kind so den ganzen Nachmittag weiterruft, fünf Stunden lang, vielleicht sechs Stunden lang, bis Lämmchen kommt.
Pinneberg späht durch die Tür. Der Murkel ist still geworden, der Murkel schläft. Pinneberg schleicht leise aus der Laube, er schließt ab, einen Augenblick steht er am Fenster und lauscht, ob der Murkel nicht vom Schließen wach geworden ist. Nichts. Stille.
Pinneberg setzt sich in Trab, er kann den Zug noch kriegen, aber wahrscheinlich ist es nicht. Jedenfalls muß er ihn kriegen. Ihr Hauptfehler war es natürlich, daß sie noch ein ganzes Jahr nach seinem Arbeitsloswerden die teure Wohnung bei Puttbreese behalten haben. Vierzig Mark Miete, wenn man neunzig Mark Einnahmen hat. Es war ein Wahnsinn, aber sie konnten sich nicht entschließen … Das letzte Eigene aufgeben, das Alleinseinkönnen, das Beisammenseinkönnen … Vierzig Mark Miete – und das letzte Gehalt ging drauf, und Jachmanns Geld ging drauf, und dann ging es nicht mehr und mußte doch gehen. Schulden – und Puttbreese stand da: »Na, junger Mann, wie ist es mit dem Kies? Wollen wir gleich jetzt den Umzug machen? Gratisumzug habe ich versprochen, bis auf die Straße …«
Lämmchen war es, die den Meister immer wieder besänftigte. »Sie zahlen, junge Frau«, sagte Puttbreese. »Na ja, aber was der junge Mann ist – ich hätte längst Arbeit gefunden …«
Krampf und Rückstände wachsen, ein ohnmächtiger Haß gegen den Mann in der blauen Bluse. Schließlich hatte sich Pinneberg nicht mehr heimgetraut, den langen Tag saß er in irgendwelchen Parks oder bummelte ziellos durch die Straßen und sah in den Läden, wieviel gute Dinge es für gutes Geld gab. Dabei fiel ihm einmal ein, daß er ja ebensogut einmal auch nach Heilbutt suchen könnte. Er hatte damals nur einen Versuch bei Frau Witt gemacht, aber schließlich gab es Polizeireviere, Meldebüros, ein Einwohnermeldeamt. Es war nicht nur, um sich zu beschäftigen, daß Pinneberg auf den Heilbutt-Fischfang ging, ein ganz klein bißchen dachte er an ein Gespräch, das er einmal mit Heilbutt gehabt hatte, es war darin von Heilbutts eigenem Geschäft und dem ersten Mann, den er darin beschäftigen würde, die Rede gewesen.
Nun also, Heilbutt zu finden, das hatte sich als nicht sehr schwierig herausgestellt. Er wohnte noch immer in Berlin, er hatte sich ganz ordnungsgemäß umgemeldet, nur hauste er nicht mehr im Osten, er war ins Zentrum der Stadt gedrungen. »Joachim Heilbutts Bilderzentrale« stand an der Wohnungstür.
Wirklich, Heilbutt hatte sein eigenes Geschäft, hier war der Mann, der sich nicht auf den Kopf hauen ließ und doch vorwärts kam. Und Heilbutt war auch ganz bereit gewesen, seinen einstigen Freund und Kollegen bei sich zu beschäftigen. Es war keine Stellung mit Gehalt, es war ein Provisionsposten, den Heilbutt zu vergeben hatte. Eine anständige Provision wurde vereinbart, und nach zwei Tagen gab der erwerbslose Pinneberg seine Bestallung wieder in Heilbutts Hände zurück.
Oh, er bestritt gar nicht, daß damit Geld zu verdienen war, nur er konnte es nicht verdienen, es lag ihm nicht. Nein, von Zimperlichkeit konnte keine Rede sein, es lag ihm einfach nicht.
Seht, Heilbutt war seinerzeit über ein Aktfoto gefallen, wegen eines Aktfotos hatte er einen vorzüglich ausgefüllten, nicht aussichtslosen Posten aufgeben müssen. Andere Leute hätten nun Aktfotos wie die Pest gemieden, Heilbutt machte den Stein des Anstoßes zum Grundstein seiner Existenz. Da hatte er nun diese unerhört abwechslungsreiche Kollektion wertvoller Aktfotos, keine käuflichen Modelle mit verbrauchten Körpern, nein, junge frische Mädchen, temperamentvolle Frauen – Heilbutt vertrieb Aktfotos.
Er war ein vorsichtiger Mann, ein bißchen Retusche, ein neu montierter Kopf, das kostet nicht die Welt, niemand konnte auf ein Foto tippen und sagen: »Das ist doch aber …« Mancher aber konnte zweiflerisch dastehen und meinen: »Ist das aber nicht …?«
Heilbutt inserierte seine Kollektion zum Versand, aber auf dem Gebiet war die Konkurrenz zu groß, es ging zwar, aber es ging nicht glänzend. Glänzend ging der direkte Verkauf. Heilbutt hatte drei junge Leute durch die Stadt laufen (der vierte war zwei Tage lang Pinneberg gewesen), sie verkauften diese Bilder an gewisse Mädchen, an gewisse Wirtinnen, an die Portiers gewisser kleiner Hotels, an die Toilettenmänner und -frauen gewisser Lokale. Es war eine große Sache, sie wurde immer größer, Heilbutt lernte, was die Kundschaft brauchte. Es war nicht zu sagen, wie groß der Appetit einer Viermillionenstadt in diesen Dingen war, es gab unendliche Möglichkeiten.
Ja, Heilbutt bedauerte, daß sein Freund Pinneberg sich nicht hatte entschließen können mitzumachen. Die Sache hatte eine große Zukunft. Heilbutt dachte, daß manchmal auch die beste Frau, gerade die beste Frau, ein Hemmschuh sein kann. Pinneberg kotzte es einfach an, wenn ihm so ein Toilettenonkel erzählte, was seine Kundschaft zu der letzten Kollektion gesagt hatte, wo man unbedingt deutlicher sein mußte und warum und wieso. Heilbutt war einst für Freikörperkultur eingetreten, er bestritt es nicht, er sagte: »Ich bin ein praktischer Mensch, Pinneberg, ich stehe mitten im Leben.«
Er sagte aber auch: »Ich lasse mich nicht treten, Pinneberg. Ich bleibe ich, die andern mögen sehen, wo sie bleiben.«
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