»Was Sie rechnen …! Wie können Sie denn wissen, wie die Sache hier erledigt wird. Da gibt es mehrere Instanzen.«
»Wenn es aber prompt erledigt ist …«
»Hier wird alles prompt erledigt, da verlassen Sie sich drauf.«
Pinneberg sagt sanft und fest: »Wollen Sie sich nun also erkundigen, ob die Sache erledigt ist oder nicht?«
Der junge Mann sieht Pinneberg an, Pinneberg sieht den jungen Mann an. Sie sind beide recht anständig gekleidet, Pinneberg muß das ja schon von Berufs wegen, sie sind beide sauber gewaschen und rasiert, beide haben saubere Nägel, und beide sind sie Angestellte.
Aber beide sind Feinde, Todfeinde, denn einer sitzt hinter der Barriere, und der andere steht davor. Der eine will, was er für sein Recht hält, aber der andere hält es für eine Belästigung.
»Nichts wie unnötige Scherereien«, brummt der junge Mann. Aber er steht unter Pinnebergs Blick auf und entschwindet in den Hintergrund. Im Hintergrund ist eine Tür, durch die Tür verschwindet der junge Mann. Pinneberg sieht ihm nach. Auf der Tür ist ein Schild, Pinnebergs Augen sind nicht gut genug, um ganz bestimmt die Schrift dieses Schildes lesen zu können, aber je länger er dorthin schaut, um so überzeugter ist er, auf dem Schild steht: »Toiletten«.
Eine Wut ist in ihm. Einen Meter ab sitzt ein anderer junger Mann, er hat den Buchstaben O. Pinneberg möchte ihn gern fragen, wegen der Toiletten, aber es hat keinen Sinn, O wird nicht anders sein als P, die Schalterhalle macht es und die Barriere macht es.
Nach einer ziemlich langen Zeit, eigentlich nach einer sehr langen Zeit erscheint der junge Mann wieder durch dieselbe Tür, auf der, wie Pinneberg annimmt, »Toiletten« steht.
Pinneberg schaut ihm gespannt entgegen, aber er wird nicht angesehen. Der junge Mann setzt sich, nimmt Pinnebergs Mitgliedskarte, legt sie auf die Barriere und sagt: »Ist erledigt.«
»Das Geld ist abgeschickt? Gestern oder heute?«
»Ist schriftlich erledigt, sage ich Ihnen doch.«
»Wann bitte?!«
»Gestern.«
Pinneberg sieht den jungen Mann noch einmal an. Es kommt ihm nicht geheuer vor, es waren wohl doch nur die Toiletten. »Wenn ich das Geld nicht zu Hause vorfinde, sage ich Ihnen …!« erklärt er drohend.
Aber er ist abgemeldet bei dem jungen Mann. Der spricht mit seinem Gegenüber, dem Buchstaben O, über »komische Leute«. Pinneberg schaut sich den Kollegen noch einmal an, so was hat er schon immer gewußt, aber er ärgert sich doch. Dann sieht er auf seine Uhr: Nun muß es aber mit der Elektrischen sehr klappen, wenn er rechtzeitig bei Mandel sein will.
Natürlich klappt es nicht. Natürlich wird er nicht nur bei der Torkontrolle erwischt, nein, Herr Jänecke faßt ihn auch noch auf der Abteilung ab, als er atemlos angeprescht kommt. Herr Jänecke sagt: »Nun, Herr Pinneberg? Kein Interesse an der Arbeit …?«
»Ich bitte um Entschuldigung«, keucht Pinneberg. »Ich war nur zur Krankenkasse. Wegen der Entbindung von meiner Frau.«
»Lieber Pinneberg«, sagt Herr Jänecke mit Festigkeit, »das erzählen Sie mir nun seit vier Wochen, daß Ihre Frau entbunden wird. Ich finde es ja eine große Leistung, aber vielleicht denken Sie sich das nächste Mal etwas anderes aus.«
Und ehe Pinneberg noch ein Wort antworten kann, entschwindet Herr Jänecke, Schritt um Schritt, und Pinneberg sieht ihm nach.
Aber am Nachmittag gelingt es Pinneberg doch, wenigstens mit Heilbutt hinter dem großen Mantelständer einen kleinen Plausch zu halten. Das haben sie lange nicht getan, es ist zwischen den beiden nicht mehr ganz so wie früher. Seit Heilbutt von Pinneberg nie ein Wort über den Badeabend gehört hat, geschweige denn eine Beitrittserklärung, ist etwas zwischen ihnen. Natürlich ist Heilbutt viel zu höflich, um den Gekränkten zu spielen, aber der alte Ton ist es nicht mehr.
Pinneberg schüttet sein Herz aus. Erst erzählt er von Jänecke, aber da zuckt Heilbutt nur die Achsel: »Der Jänecke. Gott, wenn du dir das zu Herzen nimmst!«
Schön, Pinneberg wird es sich also nicht mehr zu Herzen nehmen, aber die Leute von der Krankenkasse …
»Nett«, sagt Heilbutt. »Sehr nett. Genau wie solche Leute sein müssen. Aber erst mal die Hauptsache: wenn ich dir mit fünfzig Mark aushelfen kann?«
Pinneberg ist gerührt: »Nein, nein, Heilbutt. Keinesfalls. Wir schlängeln uns schon durch. Es ist ja nur, weil man doch ein Recht hat auf das Geld. Sieh mal, die Entbindung ist nun bald drei Wochen her.«
»Auf die Geschichte, die du eben erzählt hast«, sagt Heilbutt nachdenklich, »würde ich nichts machen. Der Kerl streitet ja doch alles ab. Aber wenn du heute abend das Geld nicht zu Hause hast, dann würde ich mich beschweren.«
»Ach, das hilft ja auch nichts«, sagt Pinneberg mutlos. »Mit uns können sie es doch machen.«
»Nicht bei denen beschweren, das hat natürlich keinen Sinn. Aber es gibt ein Aufsichtsamt für Privatversicherungen, dem sind die unterstellt. Warte mal, ich sehe gleich die Adresse im Telefonbuch nach.«
»Ja, wenn es so was gibt«, meint Pinneberg hoffnungsvoller.
»Du sollst mal sehen, wie das Geld geflitzt kommt.«
Also, Pinneberg geht nach Haus, er langt bei Lämmchen an, er fragt: »Das Geld?«
Lämmchen bewegt die Achseln: »Nichts. Aber es ist ein Brief von denen da.«
Pinneberg hört noch den frechen Tonfall von dem »Ist erledigt«, wie er den Brief aufreißt. Wenn er den jetzt da hätte, den Kollegen, wenn er den doch da hätte …!
Also es ist ein Brief, und es sind zwei schöne Fragebogen, nein, kein Geld, das Geld hat Zeit.
Papier. Ein Brief. Zwei Fragebogen. Aber sich einfach hinsetzen und die ausfüllen? O nein, mein Lieber, so einfach machen wir es dir nicht. Zuerst besorge dir einmal eine standesamtliche Geburtsurkunde für »Kassenzwecke«, denn die Krankenhausbescheinigung über die Geburt genügt uns natürlich nicht. Dann unterschreibe die Fragebogen und fülle sie hübsch aus, es werden da zwar lauter Sachen gefragt, die wir alle schon in unserer Kartothek haben, wieviel du verdienst, wann du geboren bist und wo du wohnst, aber ein Fragebogen ist immer hübsch.
Nun, mein Lieber, kommt die Hauptsache: Das alles ließe sich ja eventuell in einem Tag ganz gut erledigen, nun besorge uns aber erst mal Bescheinigungen, welchen Krankenkassen du und deine Frau in den letzten beiden Jahren angehört habt. Es ist uns zwar bekannt, daß die Ärzte der Ansicht zuneigen, daß im allgemeinen Frauen Kinder nur neun Monate tragen, aber sicher ist sicher, die letzten zwei Jahre, bitte schön. Vielleicht können wir dann die Kosten auf eine andere Kasse abwälzen.
Haben Sie die Güte, Herr Pinneberg, bitte gedulden Sie sich mit der Erledigung dieser Angelegenheit bis zum Eingang der notwendigen Unterlagen.
Ja, Pinneberg sieht also Lämmchen an, und Lämmchen sieht Pinneberg an.
»Reg dich bloß nicht so schrecklich auf«, sagt sie. »Die sind nun mal so.«
»O Gott«, stöhnt Pinneberg. »Diese verruchten Schweine. Hätte ich den Kerl nur da …!«
»Laß man«, sagt Lämmchen. »Wir schreiben gleich an die Krankenkassen. Und wir legen Freiumschläge bei …«
»Was das alles wieder für Geld kostet!«
»Und in drei, vielleicht vier Tagen haben wir alles beisammen und schicken es denen ein.«
Schließlich setzt sich Pinneberg hin und schreibt. Bei ihm ist der Fall einfach, er hat nur an seine Krankenkasse in Ducherow zu schreiben, aber Lämmchen war vorher in Platz leider in zwei verschiedenen Kassen, nun, man muß mal sehen, irgendwann werden die Brüder ja schreiben …
»… bis zum Eingang der notwendigen Unterlagen zu gedulden …«
Und als diese Briefe geschrieben sind und Lämmchen friedlich dasitzt in ihrem weißroten Bademantel, als sie ihren Murkel an der Brust hält und das Kind trinkt, trinkt, trinkt – da taucht Pinneberg noch einmal die Feder in das Tintenfaß, schreibt mit seiner schönsten Handschrift einen Beschwerdebrief an das Aufsichtsamt für Privatversicherungen.
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