Mechthilde Böing - Franziska

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Die Geschichte einer Frau und der Familien, in die sie hineingeboren wurde und die sie selbst gründete, über die gesamte Dauer ihrer Lebenszeit betrachtet. Sie ist zusammengewoben aus vielen Anekdoten, persönlichen Erinnerungen und einer Menge Fantasie ihrer Tochter, der Autorin.
Franziska selbst hat ihr Leben nie als außergewöhnlich betrachtet, und vielleicht war es das auch nicht. Sie gehörte zu der Generation Frauen, deren Platz im Leben schon bei ihrer Geburt vorgezeichnet war. Sie hat ihn klaglos, wenn auch manchmal mit Wehmut eingenommen.
In ihren sechsundachtzig Jahren auf dieser Welt hat sie mit ungeheurer inneren Kraft einen Krieg und seine Folgen überstanden, unter schwierigen Bedingungen als Fels in der Brandung eine Familie zusammengehalten, Schmerz und Trauer erfahren und tiefe, gute Beziehungen zu den Menschen aufgebaut, die sie in ihr Herz ließ.
Diese Geschichte ihrer Familie erstreckt sich über fünf Generationen und drei Kontinente. Sie ist geprägt von guten Männern, denen der Schrecken des Krieges ihre Stimme nahm, und besonders von den starken Frauen, die an ihrer Seite standen. Ihre Persönlichkeiten wirken in den späteren Generationen nach, bis heute.
Dieses Buch ist ein Denkmal für all die Frauen, die niemand nach ihren Träumen fragte, die das Leben nehmen mussten wie es kam, die trotzdem ihren Optimismus nie verloren und am Ende von sich sagen: Es war gut, so wie es war.

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Daneben Franziska, freundlich und höflich, aber eher zurückhaltend. Sie schaute etwas unglücklich drein, denn eigentlich wäre sie lieber mit ihren Freundinnen im Pastors Busch spielen gegangen, als im besten Kleid die ihr unbekannte Tante und den merkwürdig sprechenden Onkel zu begrüßen.

Neffe Heinz war ein gutaussehender, zuvorkommender, fast schon erwachsener junger Mann, der sich stolz in der Tracht des Jungvolkführers der Hitlerjugend präsentierte - braunes Hemd mit Hakenkreuzbinde, schwarze kurze Hose, Kniestrümpfe - und sich gleich ihres Gepäcks annahm.

Sein Bruder Alois kam eher nachlässig daher. Er schien gerade noch rechtzeitig von einem wichtigen Ausflug mit seinen Kumpels herbeigeeilt zu sein, denn seine Hose war nur notdürftig vom Dreck befreit und sein Hemd ziemlich verschwitzt. Dem Tadel seiner Mutter, „Wo kommst du denn jetzt her und wie siehst du aus?“, begegnete er nur mit einem breiten Grinsen.

Jupp, der mit seinen fast sieben Jahren aussah wie ein richtiger kleiner Lausbub, gab Tante und Onkel brav die Hand und sprang danach fröhlich vor sich hin pfeifend auf dem Bahnhofsvorplatz herum.

Das kleine Hänneschen, jetzt schon vier Jahre alt, war der jüngste Spross der Familie. Er versteckte sich verlegen hinter seiner Mutter und lugte nur langsam hervor, um die neuen Gäste zu begutachten. Dabei nahm er den Daumen nicht aus dem Mund.

Luise und Klara waren in Holland in Stellung und konnten dem Begrüßungskomitee nicht beiwohnen. Klara wurde in ein paar Tagen erwartet und würde ihren kurzen Jahresurlaub mit der Familie in Rhede verbringen.

Auch Else fehlte, das unscheinbare Mittelkind. Sie wohnte schon seit ihrem zehnten Lebensjahr bei der Bauersfamilie Tetiedt in Büngern und wurde dort an Kindes statt angenommen, wie das so hieß.

Sie war das einzige Kind auf dem Hof und auch jetzt die junge Frau im Haushalt, die die fehlende Arbeitskraft des eigenen Nachwuchses ersetzte. Dies bedeutete nicht, dass sie wie das eigenen Fleisch und Blut behandelt wurde. Nein, sie wurde gut versorgt, was Essen und Trinken anging, war aber eigentlich zur Unterstützung bei den vielfältigen Arbeiten in der Küche, im Stall und draußen auf dem Feld auf den Hof geholt worden.

Als man damals vor Jahren auf Bitten des befreundeten Bauernpaares das Arrangement getroffen hatte, war die Wahl ganz natürlich auf Else gefallen. Luise und Klara waren schon aus dem Haus und trugen mit ihrem Salär zum Familieneinkommen bei. Mariechen hatte sich für Josefine als Hilfe im Haushalt unentbehrlich gemacht und würde ebenfalls in Kürze arbeiten gehen. Und so traf das Schicksal Else, die gesund und kräftig war; zudem ein Esser weniger im Haus half, alle anderen satt zu bekommen.

Else litt sehr unter der Einsamkeit auf dem Hof, die plötzlich und unerwartet in ihr bis dato unbeschwertes Leben in der Großfamilie kam, ohne Freundinnen und Spielkameraden, weit weg von den Geschwistern, aber sie ertrug auch dies ohne Aufbegehren.

Sie würde ihre Tante Christine aus dem fernen Uruguay später treffen, wenn das lange geplante Familienfest im Jugendheim stattfand, zu dem auch die anderen Onkel und Tanten sowie alle Cousinen und Vettern eingeladen waren.

Ein Stich ging Christine durchs Herz. Sie beneidete ihren Bruder und Josefine um ihre große Kinderschar. Wie gern hätte sie mindestens eine Tochter oder einen Sohn mit auf die Reise genommen und heute mit den Cousinen und Vettern bekannt gemacht. Sie betete inständig, dass sie einmal die Chance bekäme, ein Kind großzuziehen und hatte sich fest vorgenommen, am Sonntag in der Kirche mit dem lieben Gott ein ernstes Wort darüber zu reden.

Für Aloys war sein katholischer Glaube ein unverrückbarer Pfeiler des Lebens. Daran konnten auch die Nationalsozialisten nichts ändern, deren politische Ideale er mit Inbrunst teilte. Er sah auch nicht unbedingt einen Widerspruch, denn die Basis beider Ideologien waren Treu und Glauben an die Obrigkeit, ein rechtschaffenes Leben und das Einstehen für alte Werte wie Disziplin, Fleiß und Gemeinschaftssinn.

So war er Anfang des Jahres in die Partei eingetreten, hörte mit Begeisterung die Reden des Führers über das wiedererstarkte Deutschland im Radio, ging zu den Parteiversammlungen, meldete seine Kinder in der Hitlerjugend und beim Bund Deutscher Mädel an, und verschrieb sich ganz der deutschen Sache, soweit sie den allmächtigen Gott unberührt ließ. Was Hitler über die Juden verbreitete, darüber machte sich Aloys wenig Gedanken, denn er konnte die Thesen mangels täglichen Umgangs mit jüdischen Mitbürgern im erzkatholischen Rhede weder bestätigen noch widerlegen.

Nach wie vor engagierte er sich in der Kirche, ging jeden Tag früh morgens zur Messe, schmetterte am Sonntag das Kyrie Eleison im Hochamt und schickte seine Kinder nachmittags zur Andacht. Vor und nach jedem Essen wurde gebetet „Komm lieber Jesus sei unser Gast!“ und „Herr, dein Diener ist satt.“, denn ohne Gottes Segen schmeckte Aloys das Essen nicht.

Josefine teilte die Liebe ihres Mannes zum Allerhöchsten, obwohl sie die Religionserziehung und die Bibelstunden vornehmlich der Kirche und der katholischen Volksschule überließ.

Hier lernten die Kinder zum Beispiel im Fach Katechismus den Sinn der Beichte, den sie ganz pragmatisch für sich umsetzten: Nach der Aufzählung der unvermeidlichen Sünden aller Art im dunklen Beichtstuhl, wo der Pastor hinter einer Wand mehr oder weniger angestrengt lauschte oder auch schon mal schnarchte, und ein paar „Vater Unser“ und „Gegrüßet seist du Maria“, die die Absolution brachten, konnte man da weitermachen, wo man aufgehört hatte, denn es gab ja schon in der kommenden Woche die nächste Gelegenheit zur Reue.

Zudem wurde den Kindern im Kommunionunterricht beigebracht, wie man als Kommunionkind die Hände faltete und den Blick in Demut senkte, um in Zukunft das Fleisch und Blut Jesus Christus in Form einer Hostie empfangen zu dürfen, und vieles andere mehr, das einem den Weg ins Himmelreich sicherte.

Franziska war fasziniert von ihrer vornehmen Tante, die immer nur mit Hut, sorgfältig geschminkt und mit Schmuck behangen aus dem Haus ging, und von ihrem schicken Mann, der ihr im feinen Anzug den Arm anbot, wenn sie durch das Dorf flanierten.

So liefen ihre Eltern nie nebeneinander auf der Straße; sie hatten allerdings auch keine Zeit, einfach nur spazieren zu gehen. Wenn sie an Sonntagen nicht arbeiteten, waren sie meist getrennt unterwegs, Aloys beim Fußball oder beim Frühschoppen bei Essing in der Kneipe, wo er sich zwei Biere gönnte, bevor die Suppe zuhause auf ihn wartete, und Josefine ab und an nachmittags beim Kaffeeklatsch mit Nachbarinnen oder Cousinen.

Luxus gab es in ihrem Haus keinen, wenn man mal von der täglichen Zigarre nach dem Mittagessen absah, die Aloys mit Raucherstolz fast gänzlich abbrennen ließ, bevor er die Asche abstreifte.

Von Seidenwäsche für das Bett hatte Franziska noch nie gehört und wunderte sich nicht schlecht, als Tante Christine die Oberbetten mit diesen edlen, herrlich glänzenden Textilien überzog, die sie in Berlin gekauft hatte und mit nach Uruguay nehmen würde.

Aloys und Josefine hatten ihre Ehebetten für die Gäste geräumt und schliefen auf dem Sofa im Wohnzimmer unter einfachen Wolldecken, wobei beide darüber nachdachten, wie es wohl wäre, den anderen weichen Stoff auf ihrer Haut zu spüren.

Christine fühlte sich wie im siebten Himmel in ihrer alten Heimat. Sie genoss es sichtlich, von ihren vielen Verwandten umgeben zu sein und hätte ihre Lieben den ganzen Tag umarmen mögen.

Sie selbst hatte die westfälische Zurückhaltung in Sachen Körpernähe in Uruguay längst aufgegeben, wo sich alle Menschen zur Begrüßung auf die Wange küssten und auch im Gespräch so eng beieinanderstanden, dass kaum ein Blatt Papier dazwischen passte.

Sie herzte alle nach Lust und Laune, auch wenn die meisten hinterher etwas erschrocken einen Schritt zurück machten, und erzählte jedem mit leuchtenden Augen von ihrem schönen Leben im fernen Südamerika.

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