Die Kinder klebten an ihren Lippen und stellten sich vor, wie es wäre, als Gaucho über die Wiesen zu reiten und die Rinder übers Land zu treiben. Sie träumten davon, einmal im Leben ein ganzes Stück Fleisch für sich allein zu haben und mit Tante Christine in ihrem schicken Auto mitfahren zu dürfen.
Als Franziska ihrer Freundin Trude auf dem Weg zur Schule von ihrer extravaganten Tante erzählte, wollte die alles ganz genau wissen.
„Wie sieht sie aus?“
„Groß und stattlich, immer sehr elegant gekleidet, mit echtem Goldschmuck an den Ohren, um den Hals und am Arm.“, war die Antwort, aus der ihre Bewunderung deutlich herauszuhören war.
„Spricht sie noch Deutsch?“
„Na klar, so gut wie du und ich. Das verlernt man doch nicht.“
„Wieviel Kinder hat sie?“
„Gar keine, braucht sie auch nicht. Die hat einen ganzen Stall voll Hausmädchen unter sich, die ihr aufs Wort gehorchen müssen. Die machen morgens ihr Bett, kochen und putzen und springen um sie herum, wenn sie Gäste hat, und räumen auch die Küche hinterher wieder auf.“, erklärte Franziska.
„Toll, das hätte ich später auch gern. So ein Leben stelle ich mir klasse vor. Den ganzen Tag schicke Kleider tragen, mit den Freundinnen Kaffee trinken gehen und dann am Abend Leute einladen und sich amüsieren.“, schwärmte Trude.
„Ja, das wäre wirklich schön. Aber ich möchte dafür nicht aus Rhede weggehen müssen. Da bleib ich lieber hier. Was würde ich denn ohne dich machen?“, lachte Franziska und sie bogen auf den Schulhof ein, wo die anderen Schüler bereits dabei waren, sich in Reih und Glied aufzustellen, um wie die Pinguine klassenweise das Gebäude zu betreten.
Franziska ging gern zur Schule. Sie waren um die vierzig Mädchen in einem Jahrgang und etwa die gleiche Anzahl an Jungen, die in der Parallelklasse unterrichtet wurden. In der Pause traf man sich auf dem Schulhof, wobei die Jungen ihre Zeit hauptsächlich mit Kräftemessen und wildem Herumrennen verbrachten, während die Mädchen eher miteinander spielten.
Das Lernen fiel ihr leicht und sie hatte bald erkannt, wie man am besten ohne Probleme durchkam: Nur nicht auffallen, weder positiv noch negativ. Keiner mochte die Streber, die immer als erste aufgeregt ihre Finger in die Luft reckten, wenn der Lehrer eine Frage stellte. Und das kriegten diese dann auch später auf dem Pausenhof zu spüren, wenn plötzlich die Hinkelgruppen und Seilspringteams alle komplett waren und sie nicht mitmachen durften.
Auf der anderen Seite gab es die mutigen, frechen Schüler, die schon mal Widerworte gaben oder geheime Zettel durch die Klasse schickten. Sie wurden regelmäßig von den strengen Lehrern nach vorn beordert, die kein Vergehen durchgehen ließen, um sich einen oder mehrere Schläge mit dem Rohrstock abzuholen oder stundenlang mit hochroten Ohren in der Ecke zu stehen. Darauf hatte Franziska nun wirklich keine Lust.
Sie liebte ihre junge Turn- und Handarbeitslehrerin Irmgard Danilov, von den Kindern in ihrer Geheimsprache, in der die wichtigsten Worte von hinten nach vorn buchstabiert wurden, Dragmri Volinard genannt, die so bewundernswert burschikos und unkonventionell war. Sie fuhr Motorrad und wurde nach der Schule häufig von schicken Männern in Lederjacken abgeholt.
Sie brachte allen Kindern der Klasse das Schwimmen bei. Dazu besorgte sie für Schüler, die keines hatten, ein Fahrrad, und dann fuhren sie gemeinsam hintereinander aufgereiht die zwei Kilometer nach Krechting, wo sie ihnen im Naturfreibad an der Aa Schwimmunterricht gab, bis alle mehr oder minder hektisch paddelnd nicht mehr untergingen.
Auch organisierte sie einmal einen Filmbesuch im Kino, an dem alle Mädchen ihrer Klasse teilnahmen, nur Franziska durfte nicht. Ihre Mutter teilte ihr unumwunden und ohne Mitleid mit, für so einen Quatsch hätten sie kein Geld, die fünfzig Pfennig Beitrag seien einfach zu teuer. An diesem Abend weinte Franziska heimlich in ihr Kissen und wünschte sich, dass ihr Vater Apotheker wäre oder wenigstens Milchbauer.
Zuhause verhielt sich Franziska nach der gleichen erfolgreich getesteten Maxime: Nur nicht auffallen. Das brachte ihr die besten Chancen, bei der Aufgabenverteilung im Haushalt möglichst übersehen zu werden und direkt nach Erledigung der Schulaufgaben wie der Wind hinterm Haus verschwinden zu können.
Sie verbrachte ihre Nachmittage mit ihren Freundinnen auf dem Sportplatz oder im Pastors Busch, wo sie stundenlang Räuber und Gendarm, Verstecken, und „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielten oder was ihnen sonst noch einfiel.
Die elterliche Anordnung war, dass sie spätestens um neunzehn Uhr zum Abendbrot erscheinen musste, was sie regelmäßig um mindestens fünf Minuten verpasste, denn sie wartete, bis sie die Kirchenglocken siebenmal schlagen hörte, bevor sie durch die Nachbarsgärten nach Hause rannte.
Dann begrüßte sie ihr Vater meist augenzwinkernd.
„Na Zikus. Hast du den Tag mal wieder bis zur letzten Minute ausgekostet?“
Ihre Mutter murrte gelegentlich.
„Kannst dich ruhig mal mehr anstrengen hier zuhause. Eigentlich solltest du den Tisch zu decken, aber du warst ja mal wieder nicht zu finden. Du bist unser Kostgänger. Wir sehen dich hier nur zu den Mahlzeiten.“
Aber das war Franziska gerade recht. Jede Minute in Freiheit zählte.
Klara war gerade mit dem Zug aus Holland gekommen.
Christine war verblüfft, wie ähnlich sie ihr sah, als sie selbst noch zwanzig Jahre jünger war. Nicht nur hatten sie das gleiche runde Gesicht und mittelblonde Locken, auch die Größe und Körperhaltung waren fast identisch.
Klara hatte eine gewisse Ausstrahlung und wirkte im Zusammenwirken mit ihren Geschwistern reichlich dominant. Gleich gab es kleine Reibereien, nur ihre Schwester Tine wechselte ihr unerschrocken die Worte.
Christine beobachtete, wie Aloys Klara beiseite nahm und sie nach ihrem Geld fragte. Er musste mal wieder Leder kaufen und brauchte den Verdienst seiner Tochter dringend. Sie gab ihm, was er verlangte, denn es war von vornherein klar gewesen, dass sie einen erheblichen Beitrag zum Familieneinkommen würde leisten müssen. Sie hielt auch nichts für die Aussteuer zurück, weil ihre Arbeitgeberin sich äußerst großzügig gab und sie bereits mit dem Nötigsten ausgestattet hatte.
Da hatte es Luise, die leider nicht für den Besuch ihrer Tante frei bekommen hatte, schlechter getroffen. Auch sie musste den allergrößten Teil ihres Salärs aus Holland an ihren Vater schicken und tat sich schwer, ihre Truhe mit Wäsche und Geschirr zu füllen, obwohl sie bereits konkrete Heiratsabsichten hatte. Seit drei Jahren ging sie mit Johann aus, den sie auf einer Tanzveranstaltung in Bocholt kennengelernt hatte, und mit dem sie sehnlichst darauf hinarbeitete, das notwendige Startkapital zusammenzusparen.
Klara dachte noch nicht ans Heiraten. Sie arbeitete gern in Holland, wo sie bei einer Diplomaten-Familie angestellt war, die bereits große Kinder hatte und mit ihrer willigen Unterstützung im Haushalt sehr zufrieden war.
Sie war gleich Feuer und Flamme gewesen, damals, als der Brief ihrer Cousinen Resi und Mimi ankam, die schon einige Zeit in Holland beschäftigt waren. Sie berichteten, dass sie dort dreißig Gulden im Monat verdienten. Das war eine Menge Geld, ein Vielfaches dessen, was man in einer deutschen Fabrik erzielen konnte.
Bloß raus aus diesem Haus mit den vielen Bälgern und rein ins Abenteuer, dachte sich Klara. Kurz darauf waren sie und Luise auf dem Weg ins Nachbarland.
In Den Haag schloss sich Klara gleich dem Deutschen Verein an, wo eine ganze Horde junger Frauen ihres Alters regelmäßig zusammenkam. Heimweh kam bei ihr erst gar nicht auf.
Sie war geschickt im Umgang mit ihrer Dienstherrin, die sie schon bald ins Herz schloss und begeistert war, dass sie bereits nach zwei Tagen die holländische Zeitung lesen konnte. Aber mit Plattdeutsch als erster Sprache zuhause fiel ihr die Umstellung leicht.
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