Mechthilde Böing - Franziska

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Die Geschichte einer Frau und der Familien, in die sie hineingeboren wurde und die sie selbst gründete, über die gesamte Dauer ihrer Lebenszeit betrachtet. Sie ist zusammengewoben aus vielen Anekdoten, persönlichen Erinnerungen und einer Menge Fantasie ihrer Tochter, der Autorin.
Franziska selbst hat ihr Leben nie als außergewöhnlich betrachtet, und vielleicht war es das auch nicht. Sie gehörte zu der Generation Frauen, deren Platz im Leben schon bei ihrer Geburt vorgezeichnet war. Sie hat ihn klaglos, wenn auch manchmal mit Wehmut eingenommen.
In ihren sechsundachtzig Jahren auf dieser Welt hat sie mit ungeheurer inneren Kraft einen Krieg und seine Folgen überstanden, unter schwierigen Bedingungen als Fels in der Brandung eine Familie zusammengehalten, Schmerz und Trauer erfahren und tiefe, gute Beziehungen zu den Menschen aufgebaut, die sie in ihr Herz ließ.
Diese Geschichte ihrer Familie erstreckt sich über fünf Generationen und drei Kontinente. Sie ist geprägt von guten Männern, denen der Schrecken des Krieges ihre Stimme nahm, und besonders von den starken Frauen, die an ihrer Seite standen. Ihre Persönlichkeiten wirken in den späteren Generationen nach, bis heute.
Dieses Buch ist ein Denkmal für all die Frauen, die niemand nach ihren Träumen fragte, die das Leben nehmen mussten wie es kam, die trotzdem ihren Optimismus nie verloren und am Ende von sich sagen: Es war gut, so wie es war.

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Sie wurden von Senta und David Goldstein freudestrahlend begrüßt. Ihnen wurde das schönste Gästezimmer zugewiesen, das es im Haus gab. Den Abend verbrachten sie damit, alte Geschichten wieder aufzuwärmen und sich nach dem Wohlbefinden gemeinsamer Freunde zu erkundigen.

Senta hatte überraschender Weise selbst gekocht, eine Köchin war in der Küche nicht zu sehen gewesen. Es gab Rindergulasch mit Kartoffelbrei und Rotkohl. Sie lachten viel und scheinbar unbeschwert, so dass Christine und Eduardo glücklich ins Bett fielen.

Am nächsten Morgen wagte es Christine zu fragen, was es mit den Schildern in den Geschäften auf sich habe, und die Goldsteins wurden still. Schließlich erzählten sie ihren Gästen, dass ihre Eisenwarengeschäfte bereits an ein nichtjüdisches, nationalsozialistisches Parteimitglied verkauft waren, zu einem aus ihrer Sicht lächerlichen Preis, und sie in Kürze Berlin verlassen würden, um fürs Erste nach Argentinien umzusiedeln.

Die Situation hatte sich für sie seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten dramatisch verschlechtert. Ihre Kinder konnten nicht mehr in Deutschland studieren und waren bereits an Hochschulen in New York und London gegangen. Auf einmal war alles, was sie ausgemacht hatte, ihre gehobene Stellung, ihr gesellschaftliches Ansehen, die loyale Unterstützung des deutschen Staates während des Krieges, ihres Staates, wie sie betonten, nichts mehr wert. Sie wurden, wie andere wohlhabende Juden auch, verdächtigt, sich gegen „die Deutschen“ verschwören zu wollen, und wurden als geldgierige Monster und unhygienische Lumpen verunglimpft.

David hatte das alles nicht wahrhaben wollen, bis er eines Tages von SS-Schergen auf der Straße attackiert wurde. Danach hatte Senta darauf bestanden, dass sie zur eigenen Sicherheit und die der Kinder Deutschland verlassen würden, bis dieser, wie sie sich ausdrückte „menschenverachtende, willkürlich tobende Mob“ in der nächsten, höchstens aber der übernächsten Wahl zum Teufel geschickt würde. Sobald der gesunde Menschenverstand wieder in ihr Heimatland einzöge, kämen sie zurück. Immerhin waren alle ihre Wurzeln hier, und sie konnten sich das Alter ohne ihre Freunde und Verwandte in Berlin dann doch nicht vorstellen.

Die uruguayischen Gäste waren sichtlich konsterniert und erschrocken. In ihren Zeitungen waren die Nationalsozialisten eher als eine zu bewundernde politische Gruppierung beschrieben worden, die Deutschlands Zukunft proaktiv gestaltete und einen Führer hatte, der mit viel Charisma und eindrucksvollen Ansprachen Menschen für seine Sache gewinnen konnte und nur die besten Absichten für sein Volk hatte.

Auch Christines Bruder Aloys berichtete in seinen Briefen begeistert von den Veränderungen im Land, die ihn mit Stolz erfüllten und hoffnungsvoll in die Zukunft schauen ließen. Nun fanden sie heraus, dass diese Sicht nicht unbedingt von jedem geteilt wurde und die rosigen Zukunftsaussichten vielleicht nicht allen Menschen des Landes winkten.

Die nächsten Tage nutzten Christine und Eduardo, die nun erst einmal mit etwas gemischten Gefühlen durch die Stadt gingen, um Museen zu besuchen, eine Bootstour auf dem Wannsee zu machen, entlang der Spree zu spazieren und dem schönsten Zoo, den sie je gesehen hatten, einen Besuch abzustatten.

Die Stadt war gefüllt mit Besuchern aus dem In- und Ausland und es herrschte auf den Straßen eine fast ausgelassene Stimmung. Die Polizisten und Soldaten waren freundlich und zuvorkommend und alle zeigten sich von ihrer besten Seite. So schlimm, wie die Goldsteins es beschrieben hatten, konnte es doch nicht sein.

Am Samstag, den 1. August stiegen sie in die S-Bahn Richtung Spandau, die sie zum neuen Olympiastadion bringen sollte, wo sie mit einiger Aufregung der Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele entgegenfieberten.

Welch wunderbare Arena, der sie sich von der Haltestelle aus langsam näherten, durch ein langes Spalier von tausenden Hitlerjungen schreitend, die allgegenwärtigen Hakenkreuzflaggen im Hintergrund, mit ehrfürchtigem Blick auf das architektonische Gesamtkunstwerk. Diese imposanten hohen Türme, zwischen denen die olympischen Ringe aufgehängt waren, die grandiosen Skulpturen auf den Wiesen vor dem Stadion, das riesige Reichssportfeld dahinter mit den Reiterstatuen, wo die Dressur- und Springreitwettbewerbe ausgerichtet würden, und dann das Stadion selbst, das einhunderttausend Besucher fasste und dessen Stahlbauskelett mit tausenden von Werksteinplatten verkleidet worden war.

Die Feier war ein perfekt inszeniertes, riesiges Spektakel mit einer Demonstration der wirtschaftlichen Leistungskraft und des Stolzes des deutschen Volkes. Sie wurde per Rundfunk in die ganze Welt übertragen. Keiner der Besucher konnte sich ihrer Wirkung entziehen.

Als der Reichsführer Adolf Hitler mit seinem Gefolge die Treppe des Marathontors herabschritt, reckten sich unzählige rechte Arme ihm zum Gruß kerzengerade entgegen.

Die Olympische Hymne ertönte „Völker! Seid des Volkes Gäste, kommt durchs offene Tor herein!“, und es begann der Einmarsch der Nationen.

Uruguay war mit siebenunddreißig Athleten vertreten, die allerdings wenig Aussicht auf Medaillen hatten. Aber das tat der Freude Eduardos keinen Abbruch, der vor Begeisterung aufsprang und seinen Landsleuten zujubelte, als sie hinter ihrer blauweißen Fahne mit gelber Sonne in das Rund einbogen.

Ein weiterer emotionaler Höhepunkt war das Einlaufen des Staffelläufers mit der brennenden Olympischen Fackel, die zum ersten Mal in Griechenland entfacht und von dreitausendvierhundert Fackelläufern nach Berlin getragen worden war. Alle Besucher waren ergriffen von diesem Moment, als das Olympische Feuer hoch über dem Stadion entzündet wurde, als die Völkerverständigung zum Greifen nah erschien und alle sich auf das große Fest des Friedens freuten.

In den darauffolgenden Tagen besuchten Christine und Eduardo vornehmlich die Wettkämpfe, an denen uruguayische Athleten teilnahmen. Sie sahen das Basketballspiel gegen Belgien, das die Uruguayer für sich entscheiden konnten, schauten beim Boxen zu, wobei Christine des Öfteren den Blick abwenden musste, feuerten ihre Mannschaft vergeblich beim Fechten an und fuhren nach Grünau, wo die Ruderwettbewerbe auf einer eigens geschaffenen zweitausend Meter langen Regattastrecke stattfanden.

Am Ende ihres Berlinaufenthalts, den sie trotz der anfänglich entstandenen Vorbehalte doch sehr genossen hatten, waren sie überzeugt, dass die Befürchtungen der Goldsteins bezüglich der Nationalsozialisten wohl nicht eintreffen würden. Sicher würde die Regierung eine gute Lösung für alle Bürger finden, die sich gesetzestreu verhielten und einem geordneten Leben nachgingen. Die spürbare Heiterkeit in der Stadt und die ausgelassene Stimmung überall dort, wo sich viele Menschen trafen, an den Plätzen und Veranstaltungsorten, in den Kulturstätten und Bars, ließen aus ihrer Sicht keine andere Schlussfolgerung zu.

Nun war es an der Zeit, die Familie zu besuchen, und Christine hatte vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch, als sie endlich mit Eduardo nach einer vollen Tagesreise in Rhede aus dem Zug stieg.

Dort schallte ihnen ein „Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsere weit und breit“ entgegen, das ihr Bruder Aloys angestimmt hatte, und in das seine Frau Josefine und die Kinder auf sein Zeichen hin im Kanon mit einfielen.

Christine musste sich erst einmal orientieren, um die ihr von den vielen Briefen und jährlichen Fotos geläufigen Namen der Kinder den Gesichtern zuzuordnen.

Da war Mariechen, sehr hübsch und adrett gekleidet, eine attraktive junge Dame, ohne Zweifel. Tine, ihr Patenkind, das sie in ihrer Erinnerung gerade noch bei der Taufe gehalten hatte, kurz bevor sie ausgewandert war, hatte sich zu einer hochaufgeschossenen, sehr schlanken Jugendlichen entwickelt, und strahlte sie erwartungsvoll an.

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