Tado starrte Etos fassungslos an. Was er da sagte, konnte einfach nicht wahr sein. Er war nie und nimmer ein Auserwählter irgendeines Orakels, und konnte schon gar nicht über das Schicksal dieses Tals entscheiden. Es musste irgendein dummer Scherz sein, immerhin fehlten ja auch die Drachenklinge und die Maus. Diese Dinge redete sich Tado in Gedanken ein, doch insgeheim breitete sich in ihm eine Ahnung aus, ein beunruhigendes Wissen, dass sein Auftrag in einem weit größeren Maße ausufern würde, als er es sich ausgemalt hatte. Dieses Gefühl beunruhigte ihn. Er war niemand, der sich gern in unüberblickbare Gefahren begab. Was, wenn er mit diesem Auftrag seinen Tod besiegelt hatte?
Bevor sich Tado weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, begann Etos schon wieder zu erzählen, nachdem er von seinen Gegenübern nur ungläubig angestarrt wurde und auf die erwartete Antwort vermutlich noch einige Stunden hätte warten können.
„Jedenfalls, da ihr, wenn auch aus anderen Gründen als wir, gegen den Lord des Frostes kämpfen wollt, bin ich gewillt, euch meine Unterstützung anzubieten. Seit langer Zeit schon werden wir unterdrückt und es kann nicht mehr ewig dauern, bis unser Versteck entdeckt wird. Viele Jahre spielten wir mit dem Gedanken, den Lord zu stürzen, doch niemand wagte bisher, einen der gefassten Pläne in die Tat umzusetzen. Doch vielleicht ist dies unsere letzte und einzige Chance, den Tyrannen zu bezwingen.“
„Möglich“, erwiderte Tado, sich langsam beruhigend, „aber die hier versammelten Menschen reichen dafür nicht aus. Wie viele seid ihr? Hundert? Zweihundert?“
„Dreihundertdreiundachtzig“, erklärte Etos stolz. „Allerdings sind dort auch Frauen und Kinder dabei. An kampffähigen Männern haben wir eine nur knapp dreistellige Zahl. Deswegen müssen wir auch die anderen Völker des Tals um ihre Mithilfe bitten.“
„Andere Völker?“, fragte Spiffi.
„Aber ja! Die Aonarier bildeten zwar die größte, nicht aber die gesamte Bevölkerung des Landes hier. Dennoch die schwächste. Deswegen hat der Lord uns auch angegriffen. Damals sind viele ums Leben gekommen. Mittlerweile existieren nur noch die vier Großmächte als freie Völker, die sich der Lord nicht traut, anzugreifen. Doch auch dies wird nicht mehr allzu lange der Fall sein. Wir müssen sie vereinen“, sagte der König. „Wenn alle Armeen dieses Tals gemeinsam den Lord angreifen, gelingt es uns vielleicht, ihn zu bezwingen.
„Und... wer sind diese Großmächte?“, fragte Regan interessiert.
„Zuerst wären da die im Norden lebenden Bärenmenschen. Ihre Muskelkraft ist unangefochten, doch sie sind mittlerweile schon fast zur allgemeinen Bedrohung geworden, da der Lord ihren König durch eine List gefangen nahm und sie nun alles und jedem misstrauisch begegnen.“
Etos’ Erzählung wurde von einer Zwischenfrage seitens Spiffi unterbrochen: „Warum hat er ihn nicht getötet?“
Der König der Aonarier lachte leise. „Den kann man nicht töten. Jedenfalls nicht so leicht. Er zerquetscht Körper und Fels gleichermaßen so mühelos wie ein rohes Ei. Der Lord ist froh, ihn überhaupt in die Finger bekommen zu haben, was allein schon einem Wunder gleicht. Einem schrecklichen Wunder...
Aber nun wieder zurück zu den Großmächten: Als nächstes sind da die Eiskreischer am Todesfluss. Über ihre Stärke ist nichts bekannt, da sie niemals jemanden angriffen und auch niemals angegriffen wurden. Der Lord fürchtet sie, da sie das Eis, mit dem er ihr heimisches Gewässer zufrieren ließ, scheinbar mühelos durchbrachen. Daher stammt auch ihr Name, den sie seit einiger Zeit angenommen haben.
Die dritte Macht bildet das Reich der Bäume. Die Kampfkunst der Bewohner mit Pfeil und Bogen ist präzise und tödlich und die Königin verfügt ebenso wie der jetzige Herrscher des Tals über Zauberkräfte. Sie werden wohl am ehesten gewillt sein, sich unserem Vorhaben anzuschließen.
Kommen wir nun zur vierten und mächtigsten Großmacht. Dem Reich der Sonne. Die Rüstungen der Krieger gelten als die besten ganz Gordoniens. Noch nie hat sie jemand bezwungen. Ehe der Lord dieses Volk angreift, wird wohl noch so einige Zeit vergehen, aber auch nicht endlos. Die Königin lebt in ihrem Palast im Sonnengebirge, was auch unser erstes Ziel sein wird.“
„Gebirge?“, fragte Tado, als Etos seine Erzählung beendete. „Ich dachte, wir sind in einem Tal.“
Der König musste über seine Frage lächeln. „Natürlich. Es ist eigentlich auch mehr ein Ausläufer der umliegenden Berge, aber da es trotzdem eine beachtliche Höhe aufweist, nannten wir es eben Gebirge.“
Etos machte eine kurze Pause. Nachdem weder Tado noch die anderen eine weitere Frage hatten, räusperte er sich und fuhr fort: „Nun, da es schon spät ist, solltet ihr euch einen freien Lagerplatz zum Schlafen suchen, da drüben zum Beispiel“, er deutete mit einer Geste auf einen leeren Platz an der Wand. „Selbstverständlich werde ich nach Freiwilligen meines Volkes fragen, vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere, um uns zu begleiten.“
Mit diesen Worten trennten sich ihre Wege. Tado, Spiffi und Regan breiteten ihre Decken auf dem ihnen zugewiesenen Platz aus, während ihr Gastgeber zwischen den Männern umhereilte.
Schließlich brach die Nacht herein...
Er stand auf einer Art Felsplateau und sah zum Mond. Doch sein Blick suchte nicht den Gesteinsball. Er war auf etwas am Rand des Plateaus gerichtet. Eine Gestalt, in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt.
Er spürte ihren Blick, das mordlustige Flackern in den rot glühenden Augen, die ihn unentwegt anstarrten. Wenn er jemals Angst gehabt hatte, dann jetzt. Dieses Ding, das einfach nur dastand, den übergroßen, leuchtenden Vollmond im Rücken, wie eine Art Portal, ein Portal in eine andere Welt, eine Welt der Angst und der Qual, löste in ihm eine nie zuvor auch nur ansatzweise gedachte, geschweige denn gespürte Panik aus. Er wollte sich umdrehen, wegrennen, dieses Bild aus seinen Erinnerungen verbannen, aber dieser Anblick, der eine solche Furcht in ihm auslöste, war auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise faszinierend, sodass er sich eigentlich gar nicht abwenden wollte.
In dem Moment, in dem er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, spürte er einen unbeschreiblich heftigen Stoß in den Rücken, der sich anfühlte, als würden all seine Innereien in einer riesigen Weinpresse gleichzeitig zerdrückt, und noch ehe er überhaupt wusste, wie ihm geschah, da...
...erwachte er. Es passierte so plötzlich, dass er im ersten Moment nicht einmal wusste, ob er nicht immer noch träumte.
Vorsichtig tastete er, soweit es ihm möglich war, seinen Rücken ab. Nichts, keine Schmerzen, und er fühlte sich unversehrt wie immer an. Trotzdem beruhigte ihn das nur teilweise. Bisher hatten seine Träume allesamt damit aufgehört, dass er erwachte, kurz bevor etwas geschah. Diesmal allerdings war etwas geschehen.
Hoffentlich, dachte Tado, würden seine Träume von nun an nicht noch länger werden, sodass er womöglich eines Tages noch mitten im Schlaf starb... Dieser Gedanke hatte irgendwie etwas Beunruhigendes.
Er setzte sich auf. Es schien noch immer finstere Nacht zu sein. Sehen konnte Tado natürlich nichts, da sie sich ja in einer Höhle befanden, und die Aonarier alle Feuer gelöscht hatten. So beschloss er, wider seiner inneren Stimme, die vehement dagegen anschrie, sich noch einmal hinzulegen.
Tatsächlich überstand Tado die Nacht ohne weitere Alpträume.
Recht unsanft wurde er am nächsten Morgen zusammen mit seinen zwei Begleitern von Etos geweckt, der bereits fertig zum Aufbruch schien. Er trug wie schon am Vortag seinen Fellmantel, schleppte jetzt aber auch einen Rucksack und hatte sich einen Gürtel, an dem ein langes Schwert befestigt war, umgeschnallt.
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