„Von nun an dürfen wir keinen Laut mehr von uns geben“, sagte Tengal, der Dritte der Aonarier, die sie begleiteten.
Die kleine Gruppe marschierte los, durch endlos viele Korridore und Türen. Tado stellte schon nach den ersten Minuten fest, wie hoffnungslos er sich verlaufen hätte. Bei diesen Unmengen an Gängen wäre es sinnvoll gewesen, jeden einzelnen einen Namen, so wie es bei Straßen in großen Ortschaften gemacht wird, zu geben. Dieser Palast musste die Größe einer mittleren Stadt haben.
Irgendwann standen sie schließlich vor einer großen, zweiflügligen Tür, die dem gigantischen Eingangstor Konkurrenz machen konnte. Und natürlich von einem Sonnenkrieger bewacht wurde. Hier drinnen trug er allerdings nicht seine glänzende Rüstung, sondern einen schwarzen Umhang mit einer Sonne darauf. Etos ging auf ihn zu.
„Wir möchten zur Königin“, begann er. „Ist das möglich?“
Der Soldat sah ihn verwundert an, offenbar konnte er sich nicht erklären, wie die sieben hierher gekommen waren.
„Nein“, antwortete er schließlich. „Die Königin wünscht niemanden zu sprechen. Da ihr an den Torwachen vorbeigekommen sein müsst, habt ihr dies sicherlich gehört.“
„Natürlich“, entgegnete der König.
„Also werdet ihr jetzt gehen?“, fragte der Krieger.
„Selbstverständlich.“ Etos’ Reaktion kam so schnell, dass die Wache sie vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht kommen sah. Er boxte dem vollkommen überraschten Soldaten in die Magenkuhle und setzte in mit einem weiteren heftigen Schlag gegen die Schläfe außer Gefecht. Als der Getroffene zu Boden fiel, fügte Etos hinzu: „Nicht.“
Tado blickte nur vollkommen überrascht und verwirrt zugleich vom König zur Wache und wieder zurück. Der arme Sonnenkrieger hatte eine Platzwunde am Kopf abbekommen, schien aber ansonsten unverletzt zu sein. „Nur zu seinem Besten.“
Etos’ Worte klangen mehr nach einer Entschuldigung als nach einer Rechtfertigung. Die sieben gingen am bewusstlosen Krieger vorbei und standen nun direkt vor der Tür.
„Ich hoffe, ihr wisst, wie man sie öffnet“, meinte Spiffi mit einem unsicheren Blick zum König. Dieser streckte nur die Hand aus, worauf die beiden Torflügel absolut lautlos aufschwangen und den Blick auf einen wahrlich titanischen Saal freigaben. Der Boden war aus so glänzend poliertem Marmor, dass Tado sein eigenes Spiegelbild darin erkennen konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite, die eine riesige Fensterfront bildete, führten einige Stufen hinauf zu einem gigantischen Thron, auf dem eine komplett in lila gekleidete Frau mit langem schwarzen Haar saß. In der linken Hand hielt sie ein Stück Papier, auf das sie konzentriert starrte, und in der anderen ein Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit, von der sie von Zeit zu Zeit ein wahrhaft winziges Schlückchen trank. Links und rechts ihres Sitzplatzes stand jeweils eine riesige Holztafel, an denen insgesamt wohl über hundert Mann Platz gehabt hätten. Die Kronleuchter an der sich in einer schwindelerregenden Höhe wölbenden Decke tauchten die Halle in helles Licht. Doch trotz der Größe des Raumes herrschte hier eine absolute Stille.
Als die ungebetenen Besucher die Tür so leise wie nur möglich durchschritten hatten, schloss sie sich eben so lautlos, wie sie aufgegangen war. Die Königin schien bis jetzt noch nicht bemerkt zu haben, dass sich der Saal ein wenig gefüllt hatte, denn sie starrte weiterhin gebannt auf das Schriftstück. Gerade, als sie wieder ihr Glas ansetzte, fing Etos provozierend plötzlich und mit lauter Stimme an zu reden: „Seid gegrüßt, Hexate, Königin der Sonne!“
Die Angesprochene fuhr so heftig zusammen, dass ein kleiner Teil ihres Getränks auf den Wisch in ihrer Linken tropfte, sodass sie gar nicht dazu kam, die Identität der Eindringlinge festzustellen, sondern fassungslos, entsetzt, überrascht und wütend zugleich auf den Zettel starrte, den jetzt ein hässlicher roter Fleck zierte.
„Verdammt!“, rief sie schließlich. Die Größe des Saals verlieh ihrem nicht gerade wohl gewählten Wort dennoch einen majestätischen Klang.
„Welch freundliche Begrüßung“, meinte Etos spöttisch.
Die Königin sah verärgert auf und funkelte den König zuerst böse an, als sie aber erkannte, wen sie vor sich hatte, blickte sie zunächst überrascht, dann aber auf eine merkwürdige Weise amüsiert und verärgert zugleich. „Etos. Natürlich. Wer sonst würde ungesehen in mein Schloss eindringen und den törichten Fehler begehen, mich zu verspotten?“
Sie stellte ihr Glas auf der Armlehne des Throns ab.
Als Tado in das Gesicht der Königin blickte, war er mehr als überrascht. Zwar hatte er nicht erwartet, eine Greisin vor sich zu haben, aber diese Frau musste die zwanzig erst vor Kurzem überschritten haben. Und wenn ihr Reich bereits in den wenigen Jahren ihrer Herrschaft als das stärkste galt, dann musste sie wahrlich über große Fähigkeiten verfügen. Erst jetzt wurde sich Tado der Macht dieser Frau richtig bewusst.
„Aber wie ich sehe, seid ihr nicht allein gekommen“, fuhr Hexate fort, und musterte dabei interessiert die anderen Sechs, die in ungefähr fünfzehn Schritten Entfernung vor ihr standen. Ihr Blick blieb eine Weile an Regan hängen, offenbar bekam sie nicht allzu oft Besuch von einem Goblin. Etos nannte der Königin die Namen seiner Begleiter.
„Ich würde ja zu gerne wissen, was den König der Aonarier, drei seiner Männer und ebenso viele Fremde dazu veranlassen könnte, mich in meinem Palast aufzusuchen und mich in dringenden Amtsgeschäften zu unterbrechen.“
Sie stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Etos zögerte. Tado wagte es nicht, an seiner statt zu antworten. Bei dieser Frau würde er es niemals wagen, unaufgefordert zu reden. Und die Königin hatte bei ihrer Fragestellung eindeutig den König angesehen.
Schließlich raffte sich Etos doch zu einer Antwort auf: „Oh, verzeiht. Ich wusste nicht, dass das Lesen von Liebesbriefen zu wichtigen Amtsgeschäften gehört.“
Die Königin wirkte für einen Moment ertappt und ihr Gesicht gewann an Farbe. „Aber kommen wir zur Sache. Wir möchten euch um Hilfe bitten.“
„Das hätte ich mir denken können, schließlich gibt es in diesen Zeiten nicht Vieles, was einen Aonarier dazu treiben würde, den weiten Weg ins Sonnengebirge auf sich zu nehmen“, meinte Hexate nicht gerade begeistert. „Was ist euer Anliegen?“
Etos zögerte erneut, offenbar hatte er ein wenig Angst, die Wahrheit auszusprechen.
„Wir sind dazu entschlossen, den Lord des Frostes zu stürzen“, sagte er dann geradeheraus. Das Lächeln der Königin gefror. Sie setzte sich wieder ein wenig aufrecht hin. „Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Ihr sieben wollt den Lord bekämpfen, und meint, dass ich das Leben meiner Krieger für diese mehr als umnachtete Idee opfern soll?“, fragte sie zornig. Der plötzliche Stimmungswandel überraschte Tado.
„Wir werden auch die anderen Völker des Tals um Hilfe bitten“, wandte Etos ein. Auch er klang leicht verärgert. Offenbar hatte er zwar mit dieser Reaktion gerechnet, trotzdem aber auf die Unterstützung gehofft.
„Und was ist, wenn die anderen Völker auch ihre Hilfe verweigern? Was ist, wenn ihr ganz allein dasteht? Wollt ihr dann zu Siebent gegen den Lord kämpfen?“ Die Stimme der Königin war lauter geworden und auch Etos sprach nicht mehr so gefasst wie zuvor: „Notfalls würden wir auch das tun, aber die anderen Reiche werden uns helfen. Denn sie alle haben kein so ignorantes Oberhaupt wie ihr es seid!“
Das war’s, dachte Tado. Etos hatte den Bogen überspannt. Wahrscheinlich würde die Königin jetzt Blitze oder Felsen auf sie herabregnen lassen. Er schloss instinktiv die Augen.
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