Die jungen Frauen kicherten und zupften sie am Ärmel.
„Nun sei doch nicht so neugierig, Zhanna! Du machst ihn ganz verlegen.“
Sie lachten. Lokman war erleichtert, als eines der Mädchen anfing, von seinen Heiratsträumen zu erzählen. Sie hoffte, einen Mann zu finden und in Europa bleiben zu können.
„Ich will nicht mehr zurück. Meine Mutter ist tot, bei meinem Vater kann ich nicht bleiben. Ich will Kinder haben, schöne Kleider, ein Haus, ein Auto.“
Er lachte mit ihnen und wünschte allen, dass sie erreichen würden, was sie sich vorstellten.
„Wartet, ich mache ein Foto von uns!“ rief eine der Frauen plötzlich, holte ihr Handy heraus und stellte sich neben den Tisch.
Sie machte mehrere Fotos von den lachenden Mädchen. Daraufhin wollten alle Fotos haben und es entstand ein wildes Durcheinander.
Auch Lokman holte sein Handy heraus. Es gelang ihm, mehrere Aufnahmen von Zhanna zu schießen, ohne dass sie es bemerkte. Zuletzt blickte sie mit einem Lachen zu ihm herüber, genau in dem Moment, als er sie aufnahm. Ihre Blicke trafen sich.
Schließlich stand er auf und ging hinüber zum Auto. Es war Zeit weiterzufahren.
Zhanna setzte sich zu ihm nach vorne. Sie fragte ihn, wie es in Europa mit ihnen weiterginge und was er als nächstes vorhabe. Er war froh, dass ihm jemand die Zeit am Lenkrad verkürzte. Sie redeten stundenlang miteinander.
„Du brauchst wirklich Urlaub, mein Junge“, meinte Hannes, Polizeipsychologe und Kollers bester Freund aus alten Tagen.
Sie standen an der Theke einer Eckkneipe in seinem Viertel, die Luft vibrierte von Rockmusik und den Stimmen der Gäste. Hier war Rauchen noch erlaubt. Entsprechend neblig war die Atmosphäre.
„Das bringt zwar mein Nervenkostüm wieder in Form“, erwiderte Koller, „aber mit Jenna ändert das nichts. Und darum geht es doch.“
Er leerte sein Glas und bestellte ein weiteres Kölsch bei Charlie, dem Mann hinter der Theke. Der nickte, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen. Sekunden später stand es vor ihm.
„Nein. Das Wesentliche ist, dass es dir gut geht“, widersprach Hannes. „Ob Jenna dazu gehört oder nicht, ist etwas Anderes.“
Er fuhr sich mit der Hand über das spärliche Haar, das ihm bis in den Nacken hing. Was er an Glatze auf dem Kopf hatte, machte er ringsum wieder wett. Er war so groß wie Koller und wirkte in Jeans und gewölbtem T-Shirt wie ein 68er-Fossil.
Koller wurde ungehalten.
„Ich habe Jenna geheiratet, weil ich sie liebe, mein Leben mit ihr verbringen will.“
„Ja, und dann bist du dauernd weg, weil der Dienst wichtiger ist als deine Frau. Mach dir nichts vor, Mann!“
Hannes hatte sein nächstes Kölsch schon auf Kinnhöhe.
„Wir tun, was wir für richtig halten. Meistens jedenfalls. Aber die Konsequenzen hauen uns dann regelmäßig um. Warum eigentlich?“
Er trank in großen Zügen. Das leere Glas zeigte er Charlie.
„Bloß, wir akzeptieren nicht, dass unser Handeln ausdrückt, was wir eigentlich wollen. Dabei liegt genau da unsere Verantwortung für unser Leben. Warum hätten wir sonst so gehandelt?“
Koller verdrehte die Augen. So redete sein Kumpel nur noch, seit er geschieden war. Hannes hatte vier Jahre gebraucht, um darüber hinweg zu kommen, Psychologie hin oder her.
Koller ging das Gefasel auf die Nerven.
„Ich bin nie fremd gegangen“, warf er ein, „niemals, und da waren einige Angebote!“
Seine Aussprache war nicht mehr allzu präzise. Er machte Charlie ein Zeichen, er wollte zahlen.
„Prima, kannste stolz drauf sein. Und was hat es dir gebracht?” Hannes grinste, dann wurde er ernst. „Das zählt nur, wenn es auch ihr was bedeutet hat.“
Koller rechnete mühsam die Striche zusammen und versuchte mit einsdreißig zu multiplizieren. Nach wenigen Augenblicken gab er auf und warf einen Zwanziger und eine Handvoll Münzen auf die Theke. Das musste dem Ergebnis einigermaßen entsprechen.
„Schdimmso, hoffich“, sagte er zu Charlie.
Es hörte sich an, als hätte er den Mund voller Murmeln.
Charlie schaute auf den Deckel, zählte das Geld mit geübtem Auge und schob Koller drei Münzen zurück. Den Rest strich er ein und winkte ihm zum Abschied. Sein Gesicht drückte Anteilnahme aus. Dann musste er sich um den nächsten Gast kümmern.
Koller ließ das Geld unbeholfen in seine Tasche gleiten. Er leerte sein Glas und stellte es mit einem Knall auf den Tresen, wobei er seinen Deckel nur knapp verfehlte. Er klopfte Hannes auf die Schulter und wankte, um Haltung bemüht, hinaus. Die frische Luft tat gut nach dem Lärm und dem Rauch.
Hannes mochte recht haben mit seinen Äußerungen, aber er war im Unrecht, was seine Treue anging.
Während Koller nach Hause wankte und sich an Häuserwänden abstützte, erinnerte er sich, wie eine Kollegin auf einer Fortbildung beim Essen von ihrem letzten Urlaub erzählt hatte. Beim Dessert hatte sie ihm den Sonnenbrand auf ihrer linken Brust gezeigt, wo der Rand des Bikinis deutlich erkennbar war. Und der war verdammt knapp gewesen. Er hatte ihr wortlos seine Hand mit dem Ring vors Gesicht gehalten. Daraufhin hatte sie ihre Bluse wieder zugeknöpft und war vor lauter Anstand rot geworden.
Er öffnete die Haustür und stakste durch das Treppenhaus hinauf zu seiner Wohnung. Damals war ihm aufgefallen, wie viele Kolleginnen und Kollegen sich nach dem Essen zu zweit auf den Weg ins Hotelzimmer gemacht hatten, Single oder nicht. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein.
Er schloss die Wohnungstür auf, streifte die Schuhe ab und drückte die Tür mit dem Hintern zu. Sollten die anderen machen, was sie wollten, das war ihre Sache.
Er tat zwei Schritte durch den schmalen Flur und schaffte es nach weniger als fünf Versuchen, seine Jacke auf einen der Haken zu hängen. Er drehte sich um und schaute in den Spiegel.
„Glückwunsch, altes Haus!“ sagte er zu dem müden Mann im Spiegel und versuchte ein Lächeln.
Er war damals vor allem sich selbst treu geblieben, und das zählte. Auch jetzt noch.
Aber der arme, treue Kerl ihm gegenüber lächelte nicht, sondern sah ihn nur traurig an. Er tat Koller unendlich leid, und dann schossen ihm plötzlich die Tränen aus den Augen. Koller und der arme, treue Kerl rutschten mit dem Rücken an der Wand hinab, bis sie auf dem Boden saßen. Sie bargen ihre Gesichter in den Händen und konnten es nicht länger zurückhalten.
Als Koller am nächsten Morgen aufwachte, saß er mit ausgestreckten Beinen im Flur, den Kopf in den Klamotten an der Garderobe. Im Traum hatte er sich in bestem Einvernehmen mit Jenna unterhalten. Es hatte sich so gut angefühlt. Aber jetzt war er wach. Naja, annähernd wach.
Er kämpfte sich schwer auf die Füße. Jemand hämmerte von innen an seine Schläfen, dumpf und pochend. In seinem Mund steckte etwas Schwammiges, das seltsam schmeckte und das er nicht los wurde. Er stakste ins Bad, um nachzusehen.
Es war genau dort, wo sonst seine Zunge war. Er machte zwei schnelle Schritte zur Toilette und schaffte es, sich zu übergeben, ohne dass etwas daneben ging. Das war für den Anfang doch was, worauf man stolz sein konnte.
Erst nachdem er lange geduscht und noch nackt einen doppelten Espresso getrunken hatte, fühlte er sich besser. Er zog sich frische Sachen an und verbrannte sich anschließend an einem weiteren Espresso die Zunge. Es störte ihn nicht. Heute war Samstag, und er würde auf keinen Fall ins Büro gehen.
Er ging ins Bad und fischte seinen Autoschlüssel aus der Hose. Er kehrte zu seinem Espresso zurück, leerte die Tasse und warf den Schlüsselbund hinter sich. Es schepperte kurz, dann war es still. Koller schaute nicht nach, wo die Schlüssel gelandet waren. Er wollte eben sein Handy auf stumm stellen, als es klingelte.
„Jaa?“ krächzte er.
„Wo bist du?“ fragte Roleder.
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