1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Er setzte einen dreifachen Espresso auf, stampfte ins Bad, machte sich frisch, so weit das möglich war, und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als er wieder hinaus ging, blieb er stehen. Er drehte sich um.
Ihr Koffer war weg.
Als Koller in das Krankenzimmer kam, erschrak er. Sein Vater kam ihm plötzlich so klein und alt vor. Schläuche ragten unter der Bettdecke hervor, seine Augen waren geschlossen. Seine knochigen Hände, die so viele schwere Lasten bewegt hatten, lagen kraftlos auf dem Laken, die dünne Haut ließ Adern und Sehnen deutlich hervortreten. Zwischen seinem Scheitel und dem Bettrand war viel Platz, und auch seine Füße waren vom unteren Ende zwei Handbreit entfernt. Er wirkte verloren in dem riesigen Bett.
Eine Krankenschwester kontrollierte Tropf und Katheter, beobachtete die Anzeigen auf den Geräten neben dem Bett. Sie begrüßte Koller mit einem Nicken.
„Er hat einen Hirnschlag erlitten, als er am späten Abend den Müll hinaus brachte“, sagte sie leise. „Ein Nachbar hat gesehen, wie er hinfiel, und sofort den Notarzt gerufen. Wir glauben, der Schaden ist nicht gravierend, aber Genaueres wissen wir erst nach der Auswertung des CTs.“
„Hat er eine Lähmung?“
„Wir müssen warten, bis er aufwacht.“
Koller dankte ihr, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er nahm die Hand seines Vaters und hielt sie in der seinen. Die Krankenschwester ging hinaus. Koller saß am Bett und ließ seine Gedanken mit den Sekunden dahin gehen. Es gab nichts zu tun. Ihm wurde bewusst, wie alleine er sein würde, sollte sein Vater sterben.
Er verdrängte den Gedanken und schloss die Augen, ließ sich auf dem trägen Strom der Zeit dahintreiben, lauschte auf die Schritte im Gang, den Atem des alten Mannes, das Rauschen des Blutes in seinen Adern. In diesem Zimmer auf der Station fand jetzt, in diesem Moment, sein Leben statt. Und das seines Vaters.
Zwei kleine Leben, jedes am Rande des eigenen Todes.
Koller wachte auf mit schmerzendem Nacken. Er hielt noch immer die Hand seines Vaters. Sein Handy klingelte, es war Aylín. Er ließ die alte Hand auf das Betttuch gleiten und ging hinaus auf den Flur.
„Wo bist du?“, fragte sie.
„Im Krankenhaus, mein Vater hatte eine Schlaganfall.“
„Tut mir leid. Schlimm?“
„Weiß noch nicht. Wie spät ist es? Was gibt’s denn?“
„Gleich halb eins. Ich habe herausgefunden, wo es diese Art von Tötung gibt, mit Aufschneiden und Herz anhalten!“
„Du bist ein Genie, Aylín!“
„Darf ich darauf zurückkommen, wenn es um meine Beförderung geht?“
„Kein Problem. Sag mir nur, wohin ich dich befördern soll.“
„Zu freundlich.“
Er streckte sich.
„Meinst du, wir haben es mit einer Art Ritualmord zu tun?“
„Nicht ganz. In der Mongolei werden Schafe auf diese Weise getötet, um ihr Blut nicht zu vergießen. Einige traditionelle Stämme machen das auch heute noch so, vor allem bei rituellen Festen. Ich habe sogar einen Amateurfilm im Netz darüber gefunden.“
„Dann war es ein Mongole, der diese Frau getötet hat?“
„Nicht unbedingt. Ich bin ja nicht die Einzige, die dieses Video gesehen hat, und möglicherweise macht man das auch woanders. Es sieht gar nicht spektakulär aus. Das Schaf liegt auf dem Rücken, ein Mann hält es an den Hinterläufen fest, der andere legt sein Bein quer über das Tier und schneidet an einer Stelle die Haut auf. Das Schaf scheint fast nichts zu spüren. Erst als die Hand den Puls anhält.“
„Meinst du, dass eine zweite Person anwesend war?“
„Vermutlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau zuschaut, wie jemand ein Messer zieht und sie anschneidet.“
„Die Kopfwunde. Vielleicht von einem Totschläger.“
„Ich habe Dr. Schengen dazu befragt und ihr das Video gezeigt. Sie ist überzeugt, dass die Frau betäubt wurde. Ob von dem Mörder oder einem Helfer, können wir im Moment nicht sagen.“
„Das könnte zu der mongolischen Tötungsweise passen. Gute Arbeit, Aylín.“
„Danke. Da ist noch was: Dr. Schengen hat Haare gefunden, die nicht von der Toten stammen. Eines —“
„Hat doch sicher Zeit bis zur nächsten Besprechung, oder?“
„Klar“, sagte Aylín.
„Alles Weitere Montag früh. Ich komme heute nicht ins Büro.“
„Heute nicht?“
„Ja, wieso?“
„Es ist Samstag.“
Er schnaufte.
„Stimmt ja, ich dachte —“
„Bisschen viel alles, wie?“
Koller rieb sich die Augen und nickte nur.
„Du hast nur einen Vater“, sagte sie, „nimm dir Zeit. Auch für dich.“
Am Nachmittag wachte sein Vater auf. Koller bemerkte mit Erleichterung, dass sein Gesicht nicht verzerrt oder gelähmt war.
„Hast verdammt Glück gehabt“, sagte Koller und drückte seine Hand.
Dann klingelte er nach der Schwester. Als sie mit dem Stationsarzt ins Zimmer eilte, küsste er seinen Vater sanft auf die Stirn.
„Mach’s gut, Papa, ich komme heute Abend wieder. Entspann dich.“
„Ich bin immer froh, wenn du mir sagst, was ich zu tun habe“, erwiderte der alte Mann. „Würde sonst sicher alles falsch machen.“
Koller grinste und ging hinaus. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte er Hunger. Es fühlte sich großartig an.
Nach zehn Tagen erreichten sie Istanbul, spät am Abend. Sie übernachteten in einem kleinen Hotel am Rande des Zentrums, das immer die letzte Station war. Die Frauen gingen gleich auf ihre Zimmer.
Lokman lag schwitzend auf seinem Bett. Er musste an Zhanna denken, die so oft neben ihm gesessen hatte, und daran, was sie erzählt hatte. Er konnte sie nicht einfach abgeben und nach Hause fahren.
Nachdem er sich zwei Stunden lang hin und her gewälzt hatte, zog er sich wieder an und ging hinunter. Er nickte dem Nachtportier zu. Ein grauhaariger Mann wischte den Eingang, als Lokman die Treppe herabkam.
„Wie läuft’s, Tayyip, alles im Griff?“
Der Mann hielt inne und schniefte.
„Alles in Ordnung, Lokman. Hast du wieder schöne Frauen mitgebracht?”
Lokman grinste nur.
„Eine für mich hast du nicht zufällig dabei?“ fragte Tayyip.
„Warum willst du dir auf deine alten Tage noch Ärger einhandeln? Genieß dein Leben, Mann!“
Sie lachten leise.
„Sag mal, Tayyip, du kennst doch hier im Viertel bestimmt jedes Gesicht.”
Der Mann stützte sich auf seinen Wischmop.
„Ich wohne hier seit 63 Jahren. Bis auf meinen Urlaub, du weißt schon.“
Er hatte drei harte Jahre im Gefängnis verbracht, weil er unbeabsichtigt in eine Demonstration geraten war.
„Sag, wo kann ich um diese Zeit noch einen Autohändler finden? Einen, der mehr als Autos hat.“
„Mehr als Autos?“
Lokman bemerkte, wie der Nachtportier große Ohren bekam. Er zog Tayyip in die Stille des Frühstücksraumes. Er hatte oft mit ihm zusammengehockt und wusste, was der Graukopf im Knast erlebt hatte. Allein die Leistung, da wieder rauszukommen, ohne gebrochen zu sein, hatte ihm allseits Anerkennung eingebracht. Er war ein respektierter Mann, trotz seiner Armut. Lokman mochte ihn, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Ich habe was vor und brauche ein Auto. Und eine Waffe. Wer kann das auf die Schnelle besorgen?“
Tayyip zuckte nicht mal.
„Wenn dir einer helfen kann, dann Kemal.”
Er blickte auf die Wanduhr, es war kurz vor eins.
„Schätze, der wird bald zumachen, also beeil dich.“
Er beschrieb ihm den Weg zum Autohandel. Lokman dankte ihm und sprang auf.
Der Mann saß am Schreibtisch seines kleinen Büros. Lokman ging hinein und sprach ihn an.
„Ein Bus? Was soll ich mit einem Bus?“
Der Autohändler starrte Lokman aus müden Augen an. Er hatte öliges Haar, aus seinem Schnurrbart ragte eine Knollennase hervor. Sein Bauch wirkte, als hätte er einen Fußball unter dem Hemd versteckt.
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