Stille Herzen
Kriminalroman
von Michael Hackethal
Wenn deine Welt ein Gefängnis ist,
verschwende dein Geld nicht für Vorhänge und weiche Kissen.
Besorge dir Hammer und Meißel
und mach dich an die Arbeit.
Für Svenni und Jonas, Martin und Barbara, und Anna.
Ihr wart mir ein Licht in dunklen Tagen.
Liste der Abkürzungen und Begriffe
BKA Bundeskriminalamt
Diebe im Gesetz Führende Kriminelle in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die großen Respekt in ihren Organisationen genießen, meist mit mehrjährigen Gefängnis- oder Lagerstrafen und leitender Funktion in diesen Einrichtungen
Eulex European Union Rule of Law Mission im Kosovo
KK Kriminalkomissariat
KTU Kriminaltechnische Untersuchung
LKA Landeskriminalamt
OK Organisierte Kriminalität
S’chodka Versammlung der „Diebe im Gesetz“, der führenden Bosse der russischen OK
SOLWODI SOLidarity with WOmen In DIstress – Solidarität mit Frauen in schwierigen Verhältnissen; internationale Organisation, die Frauen u. A. darin unterstützt, aus der (Zwangs-)Prostitution auszusteigen, hilft auch bei Zeugenschutzprogrammen
Spusi Spurensicherung
UÇK Befreiungsarmee des Kosovo; kämpfte für die Selbstständigkeit der albanischen Einwohner der Provinz Kosovo gegen Serbien
Mit Legalisierung der Prostitution in Deutschland im Jahre 2002 hat der Menschenhandel starken Aufschwung erfahren. Die Politik hat 12 Jahre lang tatenlos zugesehen, bevor das Gesetz in Teilen geändert wurde, obwohl bereits nach kurzer Zeit deutlich war, welche fatalen Folgen es hatte. Immer noch werden nach Angaben der UN allein in Europa jährlich zwischen 300 000 und 500 000 Frauen verschleppt und zum großen Teil in die Prostitution gezwungen.
Die meisten der im Folgenden dargestellten Handlungen beruhen auf Tatsachen. Sie wurden lediglich hinsichtlich der Details und Zusammenhänge verändert und anders kombiniert. Sämtliche Handlungen und Namen (bis auf Thaci und Haradinaj) sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Ich bin raus. Und ich bin froh, dass ich raus bin, war es vom ersten Tag an. Kann diese coolen Typen nicht mehr sehen, ob sie nun Kriminelle sind oder Polizisten. Sie halten sich für „cool“, was immer das heißen soll. Ich finde sie einfach nur ignorant.
Ich war neunzehn, als ich in den Polizeidienst eingetreten bin, vor neunundvierzig Jahren. Ich wollte die Täter nicht nur hinter Schloss und Riegel bringen, sondern mit ihnen reden, verstehen, warum sie es getan hatten. Ich gebe zu, das war naiv.
Na und? Lieber naiv als cool. Ich war nie cool, hab mir auch nie Gedanken darum gemacht. Ich wollte überhaupt nie irgendwas anderes oder irgendwer anderer sein als ich selbst. Das fand ich schon schwierig genug
Immerhin, manche von den Jungs haben mich tatsächlich verstanden. Die paar haben kapiert, dass ich sie als Menschen gesehen habe, nicht als Kriminelle. Es waren nicht viele, vielleicht sieben oder acht. In neunundvierzig Dienstjahren. Aber die sieben oder acht haben ihr Leben geändert und sind ausgestiegen. Das hat mir viel bedeutet. Denn auf einen, der es schafft, kommen fünfzig, die es versuchen. Und tausend, denen es scheißegal ist. Die nur lachen über einen naiven Bullen wie mich.
Wie gesagt – ich bin froh, dass ich raus bin.
Koller kenne ich, seit er in meinem Kommissariat angefangen hat, einige Jahre vor meiner Pensionierung. Er hört zu, nimmt sich Zeit. Man hat bei ihm den Eindruck, er will den Dingen auf den Grund gehen, denkt nach über Hintergründe und auch über sich selbst. Das fiel mir einfach auf. So jemand hat’s schwer. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.
Ich sage Ihnen, wir werden niemals behaupten können, dass wir über jemanden Bescheid wüssten, dass wir verstanden hätten, wie ein Mensch tickt. Es kommt immer einer, der denkt ganz anders, als wir uns vorstellen können. Einer, der unsere Welt auf den Kopf stellt, weil er seine ganz eigene Logik hat, seinen ganz eigenen Weg geht. Und irgendwie sogar recht hat, auf seine ganz eigene, unerwartete Weise. Bloß, seine Weise passt nicht in diese Welt, weil kein anderer sie versteht. So wie in diesem Fall.
Das ist ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Ich jedenfalls kenne keine. Nicht in dieser Welt.
„Ja, wenn ich es doch sage: ein Schnitt! Komm her und sieh dir das selbst an. So was habe ich in all meinen Dienstjahren nicht gesehen.“
Koller blickte ungläubig auf sein Handy. Hatte er richtig gehört? Aber Kollege Berger war nicht für schrägen Humor bekannt.
Es war ein Samstagvormittag im Juli. Er stand hinter der Kasse im Supermarkt, steckte das Handy ein und machte sich auf den Heimweg. Zurück in der Wohnung packte er die Einkäufe in den Kühlschrank. Im Flur griff er nach der Baumwolljacke an der Garderobe und rief Jenna zu, dass er einen Einsatz hätte, doch es kam keine Antwort. Er zuckte die Schultern, schnappte sich den Helm und machte sich auf den Weg.
Der Tatort lag in der Nähe der Bonner Universität am Rathenau-Ufer, in Sichtweite der Kennedy-Brücke und des Rheinpavillons. Mit dem Roller brauchte er weniger als eine Viertelstunde. Es war ein schwimmender Anleger für Personenschiffe, wenige Schritte rheinaufwärts von der Fähre nach Bonn-Beuel.
An einem sonnigen Wochenende wie diesem waren jede Menge Leute unterwegs. Koller parkte die Vespa neben dem flatternden Band und bückte sich unter der Absperrung durch. Er betrat den Steg, der zu dem schwankenden Anleger hinabführte. Der Rhein führte wenig Wasser.
Die Anlegemole bestand aus einer sechseckigen Konstruktion aus Eisenplatten. Sie bildeten ein Ponton, das außer über den Steg über je zwei Stahlseile am vorderen und hinteren Ende mit dem Ufer verbunden und so in der Strömung verankert war. Das Ponton hatte die Größe eines kleinen Kellerraumes. Durch eiserne Falltüren gelangte man hinein.
Berger wartete neben der offenen Eisenklappe. Koller beugte sich über die quadratische Öffnung und sah den Arm einer Frau.
„Die Spusi war schon da, wir können rein“, sagte Berger.
Koller zwängte sich durch die Falltür und stieg die Eisenleiter hinab. Ein Kollege von der Spurensicherung hatte zwei starke Leuchten aufgestellt, die den schwarz gestrichenen Eisenraum in helles, doch zugleich seltsam graues Licht tauchten. Der Stahlboden wurde vom Fluss kühl gehalten, Wände und Decke dagegen waren heiß von der Sonne.
Die Frau lag auf dem Boden des Pontons. Die linke Ledersandale war von ihrem Fuß gerutscht. Fliegen kreisten um die Tote.
Ihr weißes Sommerkleid war mit großen, roten Blumen bedruckt. Eine Blüte auf ihrem Bauch war seltsam in die Breite gezogen. Es war Blut, das sich ausgebreitet hatte.
„Was weißt du?“ fragte er Berger, der jetzt neben ihm stand, ohne den Blick von der Frau zu wenden.
„Nicht viel“, erwiderte Berger. „Ein Penner, der hier unten übernachten wollte, hat sie gestern am späten Abend gefunden.“
„Warum erfahre ich erst jetzt davon?“ fragte Koller ohne Vorwurf.
Er öffnete einen Knopf an seinem Hemd. Er war gerade erst gekommen, und schon drang ihm der Schweiß aus allen Poren.
„Erst heute morgen wurden wir angerufen. Der Penner ist die ganze Nacht herumgelaufen, wohl aus Angst, man könnte ihn gesehen haben. Dann hat er irgendwem davon erzählt und wir wurden informiert. Anonym.“
„Na traumhaft. Der oder die Täter hatten also alle Zeit der Welt, sich davonzumachen.“
Die Männer hatten Schweißperlen auf der Stirn, schweigend betrachteten sie die Tote. Sie war Anfang dreißig, vielleicht einsfünfundsechzig groß, kräftiges Haar, blond gefärbt, am Scheitel dunkler Ansatz. Roter Lippenstift ließ ihr Gesicht noch blasser wirken. Markante Wangenknochen prägten das breite Gesicht. Die Haare am Hinterkopf waren blutverklebt.
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