Sie beschloss, sich mit einem guten Essen zu belohnen. Danach würde sie sich um ihre Schwester kümmern. Sie hatte viel zu lange nichts von ihr gehört, und der Detektiv hatte noch keine Ergebnisse gemeldet. Marja machte sich Sorgen. Große Sorgen.
Die ersten Tage kamen sie schnell voran. Ihre Route führte sie durch die – für kirgisische Verhältnisse – dicht besiedelte Hochebene nach Taschkent in Usbekistan und von dort weiter über Turkmenistan nach Aserbaidschan.
Sie fuhren auf der alten Seidenstraße Richtung Westen. Die Städte lagen inmitten endlos scheinender Felder entlang der Überlandstraßen. Vom Treiben in den Ortschaften bekamen sie kaum etwas mit, sie fuhren nur hindurch oder streiften die Ausläufer der Vorstädte. Die waren am Reißbrett geplant, in rechtwinklig angeordneten Vierteln, die alle gleich langweilig aussahen.
In Turkmenbashi am Kaspischen Meer sollte ein Boot auf sie warten, um sie auf die aserbaidschanische Seite zu bringen. Das würde die lästigen Zollformalitäten umgehen und Zeit sparen. Von Aserbaidschan aus ging es über Georgien durch die Türkei nach Europa.
Lokmans Aufgabe bestand darin, die Frauen bis Istanbul zu bringen. Dort sollte er sie an andere Fahrer übergeben.
Es lief immer gleich ab. Die Männer, die sie dort in Empfang nahmen, waren stets zu zweit. Und nie dieselben. Lokman übergab ihnen die Pässe, sie zählten die Frauen und ließen sie in ihren Bus einsteigen. Dann erhielt er die andere Hälfte seines Lohns. Anschließend musste er den Bus in eine Werkstatt fahren und auf den Anruf warten. Danach konnte er ihn abholen und zurückfahren.
Für die Grenzübergänge brauchte Lokman Bakschisch. Das kürzte die Wartezeiten erheblich ab und ermöglichte ansonsten Unmögliches. Er wusste genau, wer wie viel verlangte. Und keiner würde leer ausgehen.
Dafür war das Geld der Organisation vorgesehen. Die Beträge waren fast gleichgültig. Jede Summe war besser als in einem dieser Gefängnisse zu landen, wo man nicht mehr derselbe war, wenn man wieder rauskam. Falls man wieder rauskam.
Die Notiz von Jenna steckte ihm den ganzen Tag über in den Knochen.
Wie dünn die Verbindung zwischen zwei Menschen werden konnte, bevor sie abriss. Sie waren sehr unterschiedlich, hatten sich oft aneinander gerieben, aber nicht so, dass es nicht mehr weitergehen konnte. Er jedenfalls sah kein Problem, das ihnen unüberwindbar im Weg gestanden hätte. Aber sie hatte das wohl ganz anders empfunden.
Zuhause griff er zum Telefon. Es dauerte fast eine Minute, ehe der Hörer abgenommen wurde.
„Hannes, ich bin’s. Koller. – Naja, deshalb rufe ich an. Hast du heute Abend Zeit? – Passt. Bis dann.“
Er hatte das Gefühl gehabt, dass es wieder besser werden würde, dass es nur eine Phase war, die man überstehen musste. Geduld, hatte er sich immer wieder gesagt, hab’ Geduld.
Aber es war nicht besser geworden. Sie hatten sich wohl nur an die Distanz gewöhnt.
Das Obdachlosenheim war in einem alten Haus mit mehreren Stockwerken untergebracht. Roleder ging über den gepflasterten Weg auf das Gebäude zu. Auf Bänken längs des Wegs saßen Männer mit ungepflegten Bärten und wirrem Haar, die meisten älter als vierzig, in abgewetzten Klamotten, viel zu warm für die Jahreszeit.
Roleder hielt Abstand, als er an ihnen vorbei ging.
„Ich suche Volker Eckmeier“, sagte er zu dem jungen Mann am Empfang.
Der Sozialarbeiter sah gelangweilt auf.
„Versuchen Sie’s hinten im Garten. Geradeaus durch.“
Der Geruch von altem Schweiß, Seife und Bieratem begleitete Roleder durch den hohen Korridor. Er beschleunigte seine Schritte und gelangte in einen großen Garten, der von alten Kastanien und hohen Mauern umgeben war. Im hinteren Teil erblickte er ein kleines Rondell mit einer Laube aus Holz, von wildem Wein überwachsen. Vor dem dunklen Grün leuchtete ein heller Trenchcoat im Licht der Nachmittagssonne.
„Grüß dich, Ecki. Hast du mal Zeit für mich?“ fragte er.
Der Alte richtete sich langsam auf und drehte seinen Kopf mitsamt den Schultern.
„Der kleine Eric!“ japste er heiser. „Das hätte ich ja im Traum nicht gedacht.“
Er lächelte dünn, ein gelber Zahn lugte zwischen den blassen Lippen hervor. Die papierdünne, dunkel gegerbte Haut rund um seine Augen legte sich in hundert Fältchen.
„Setz dich!“ Er klopfte neben sich auf die Steinbank. „Was führt dich in diesen Palast des Elends?“
Roleder ließ sich neben ihm nieder.
„Jemand hat eine tote Frau in einem Schiffsanleger gefunden. Ich muss mit dem Mann reden, der sie gefunden hat. Kannst du mir helfen?“
Der alte Mann nickte langsam.
„Unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Dass ich aus der Sache rausgehalten werde.“
„Versprochen.“
Eckmeier schien beruhigt.
„Der Mann, den du suchst, heißt Arnold Breckler. Er ist im Sommer in der Stadt unterwegs, kommt alle paar Wochen her, wäscht seine Klamotten und bleibt ein paar Tage.“
„Wie sieht er aus?“
„Anfang sechzig, breite Schultern, kleiner als du. Seine Hose ist dunkelblau. Manchmal trägt er eine Weste und einen Strohhut. Sein Zeug hat er in einem Einkaufswagen.“
„Hat er einen Hund?“
Der Alte schüttelte den Kopf
„Er ist immer allein. Ziemlich eigenartiger Kerl, ich komme nicht gut klar mit ihm.“
„Wieso, ist er aggressiv?“
„Er brabbelt pausenlos vor sich hin. Es macht einen ganz verrückt. Aber er kann auch schnell mal aufbrausen.“
„Ist er nicht ganz richtig im Kopf, oder was?“
„Ich würde sagen, ein bisschen verrückt, aber harmlos. Man weiß nie, wie er reagiert.“
„Wo kann ich ihn finden?“
„Am Rhein oder in der Innenstadt. Keine Ahnung, wo er schläft.“
„Danke, ich werde mein Glück versuchen.“
Eine leichte Brise bewegte die Blätter hinter ihnen. Eckmeier rieb sich die Nase.
„Da ist noch etwas, Eric.“
Er schaute Roleder mit einem verschmitzten Lächeln an.
„Ja?“
„Du musst mir versprechen, dass du bald mal wiederkommst und ein bisschen Zeit mitbringst.“
Roleder lächelte.
„Versprochen. Danke, Ecki.“
Er stand auf, klopfte dem alten Mann auf die Schulter und ging davon.
„Was willst du?“ fragte der Polizist und blickte den Eindringling über drei Stapel Akten und Papiere hinweg mürrisch an.
Iwana stand unbeholfen vor dem abgewetzten Schreibtisch in dem Polizeibüro in Odessa und hielt sich mit beiden Händen an ihrer kunstledernen Handtasche fest.
„Ich habe einen Anruf von meiner Freundin Eva erhalten“, sagte sie. „Sie ist vor sechs Wochen nach Europa gegangen, will als Verkäuferin in Deutschland arbeiten. Wir haben ein Signal vereinbart, falls sie in Not kommen sollte. Dann sollte sie mich anrufen und sagen, dass es ihr ganz ausgezeichnet ginge. Ansonsten würde sie eine andere Formulierung wählen.“
Der Beamte warf seinen Kugelschreiber auf die Tischplatte und lehnte sich seufzend zurück.
„Sie sagt also, es geht ihr ganz ausgezeichnet, aber du erzählst mir, dass es ihr nicht gut geht.“
Seine schlechte Laune wurde noch schlechter.
„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Einen Hubschrauber schicken?“
„Sie muss in Not sein, bitte glauben Sie mir. Sonst hätte sie es nicht gesagt. Und ihre Stimme klang sehr ängstlich.“
Iwana hielt ihre Handtasche mit beiden Händen vor der Brust und sah ihn mit großen Augen an. Der Polizist, ein breiter Mann Ende fünfzig, strich mit den Fingern durch seinen grauen Schnurrbart. Die junge Frau, die da schüchtern vor ihm stand, schien nicht dumm zu sein. Sie spielte sich nicht auf und ihre Sorge war echt. Ganz so selten kam es schließlich nicht vor, dass junge Frauen in Not gerieten. Oft sogar. Viel zu oft.
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