Vielleicht war er doch zu grob zu ihr gewesen.
„Wie sollte man sie denn erpressen können?“ fragte er, seine Stimme war jetzt deutlich weicher. „Hat sie Geld?“
„Nur für die Reise. Es könnte doch sein, dass jemand sie bedroht.“
„Hast du eine Ahnung, von wo sie angerufen hat?“
„Nein, sie konnte nicht lange sprechen. Die Verbindung war schlecht, bestimmt ein Ferngespräch.“
„Nicht gerade viel“, brummte der Beamte.
Ächzend stand er auf, ging zu einem alten Aktenschrank und öffnete die Glastür. Er zeigte auf die Stapel von Papier, mit denen die Regalbretter überladen waren.
„Schau mal her. Wir haben hier so viel Arbeit mit Kriminellen in unserer schönen Stadt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und für deine Sache finde ich nicht das passende Formular, weil es kein passendes Formular gibt. Ich kann dir da überhaupt nichts versprechen, Kleine.“
Er zog die Schultern hoch und sah sie traurig an. Sein Blick sagte ihr, dass es ihm ehrlich leid tat.
Während er zu seinem Schreibtisch voller Papiere zurückkehrte, kam ein Kollege aus dem Nebenzimmer, Ende zwanzig, gut trainiert. Seine Schritte waren selbstsicher.
„He, Aleksej, was gibt’s denn?“ fragte er beiläufig. Er lehnte sich lässig an das Fenstersims und blickte Aleksej mit verschränkten Armen an. Iwana ignorierte er.
„Ach, die Kleine will, dass ich mich um ihre Freundin kümmere, die vor ein paar Wochen nach Europa abgehauen ist. Sie hat angerufen, angeblich geht es ihr nicht gut. Scheiße, Dmitrij, wir haben keine Zeit, keine Leute, keine Möglichkeit, irgendwas in die Wege zu leiten.“
Dmitrij schnellte mit einem kurzen Seitenblick zu Iwana von der Fensterbank hoch.
„Verschwenden wir nicht unsere Zeit damit, Dmitrij“, winkte der Ältere ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um sich einem Aktenstapel zuzuwenden. Von dort warf er Iwana einen verdeckten Blick zu, der sie verwirrte. Der vorher so müde Mann schien plötzlich sehr wachsam. Seine Augen fixierten sie durchdringend.
Jetzt erst wandte sich der zweite Beamte Iwana zu und taxierte sie mit einem prüfenden Blick. Er ließ seine Augen ganz ungeniert über ihren Körper wandern, vom Gesicht über Brust und Bauch, die Beine hinab bis zu den Schuhen und wieder hinauf. Ohne jede Eile.
„Und wie heißt deine Freundin?“ fragte er schließlich.
Seine Stimme verriet keinerlei Interesse.
„Eva Aleksandrawna Konienka.“
„Wann hat sie angerufen?“
„Gestern Nachmittag, gegen halb fünf.“
„Weißt du, von wo sie angerufen hat?“
Er nahm sich wie beiläufig ein Blatt Papier und einen Stift. Er sah sie mit halb geschlossenen Augen an, während er sich Notizen machte.
„Nein, keine Ahnung.“ Iwana seufzte. „Es rauschte stark, wie ein Ferngespräch, aber ich konnte hören, dass sie Angst hatte.“
„Name, Adresse?“ fragte der Beamte kühl.
„Iwana Danilawna Sobolowa, 12532 Motorna 34b.“
Der Mann notierte sich alles. Auch der ältere Beamte, der hinter dem jungen Kollegen an seinem Schreibtisch saß, schrieb sich die Daten auf. Er sah Iwana an und machte eine Bewegung mit der linken Hand, die Iwana nicht verstand. Sie hatte keine Zeit, darauf einzugehen, der junge Polizist sprach sie bereits wieder an.
„Deine Telefonnummer“, fragte die Stimme kühl.
Iwana sagte sie ihm. Dann hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.
„Werden Sie sich melden, wenn Sie etwas wissen?“
Der Mann warf ihr einen Blick zu, den Iwana nicht einschätzen konnte.
„Du wirst ganz bestimmt von uns hören”, sagte er.
Irgendetwas in seiner Stimme ließ Iwanas Bauch ganz hart werden.
Lokman hatte viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, wenn er am Lenkrad seiner Marshrutka durch die Welt kurvte. Aber obwohl er schon so viel von ihr gesehen hatte, sogar Europa, wollte er nirgendwo anders als in seiner Heimat leben, drüben in China. Wenn sie ihn nur in Ruhe ließen.
Er hatte seinen Militärdienst absolviert, als er achtzehn war, und eine Zusatzausbildung für Nahkampf erhalten, Kung-Fu-Training, diverse Techniken. Die Spezialausbildung hatte ihn interessiert, weil er sportlich war und einer der Besten im Nahkampftraining. Aber er stellte bald fest, dass er kein Typ fürs Militär war. Wer wie er die Weiten der Steppe erlebt hatte, der konnte die Enge der Kasernen und die Willkür der Vorgesetzten nicht lange ertragen.
Lokmans Eltern waren einfache Hirten und Bauern gewesen, ohne jede Schulbildung, die alles dafür gaben, dass er auf eine Schule gehen konnte. Er machte nach seinem Abschluss eine Ausbildung als Schlosser, fand Arbeit in der Stadt und war dank seines Sprachtalents bald Vermittler zwischen Angehörigen verschiedener Herkunft. Er sprach Chinesisch, Russisch, Türkisch und Mongolisch.
Wann immer er Zeit hatte, kehrte er heim auf den kleinen Hof, half bei der Feldarbeit, beim Hüten des Viehs und auch beim Schlachten. Häufig feierten sie Feste, gemeinsam mit anderen Hirten und Bauern. Hier fühlte er sich wohler als in der Hektik des Stadtlebens, wenn er dort auch Dusche, Handy und Internet zu schätzen wusste. Doch liebte er die uralten Bräuche und Traditionen seines Volkes. Sie verbanden ihn mit seinen Vorfahren.
Seine Kontakte brachten ihn bis nach Ulan Bator, die Hauptstadt der Mongolei. Bald wurde er über einen Bekannten an die deutsche Botschaft vermittelt und begann Deutsch zu lernen. Dank des Goethe-Instituts verbrachte er mehr als ein halbes Jahr in Deutschland und lernte die Sprache schnell. Für Übersetzungen im täglichen Business war es genug. Zurück in China begleitete er Unternehmer aus China und Deutschland, kam viel herum und verdiente gutes Geld.
Dann kamen eines Tages russische Geschäftsleute, die mit Lokmans Hilfe Kontakte knüpften. Sie machten ihm ein Angebot, für sie zu arbeiten. Er würde gut verdienen können, sagten sie. Er lehnte ab, wollte lieber in der Heimat bleiben. Bei ihrem nächsten Besuch zeigten sie ihm Fotos von seinen Eltern bei der Feldarbeit. Es wäre doch schade, wenn der Esel krank würde. Oder seine Mutter.
So begann er im Auftrag der Russen zu schmuggeln, arbeitete ihnen zu, verdiente viel Geld. Und suchte ständig einen Weg aus dieser Abhängigkeit.
Jetzt waren die Eltern tot, das Vieh verkauft. Und was machte er? Er saß am Lenkrad und ging noch immer einem Job nach, den er nicht mehr wollte.
Er schüttelte den Kopf über seine Situation, während er in die Dunkelheit hineinfuhr.
Die Frauen, die er fuhr, erzählten manchmal von der Arbeit, die man ihnen zugesagt hatte, als Kellnerin, Krankenschwester, Putzfrau, Hotelangestellte, auch Prostituierte. Manche machten sich nichts daraus. Es war eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Was sie hier in einem Monat verdienten, das war in Europa in wenigen Tagen möglich.
Für die Frauen schien es eine Reise in den schnellen Reichtum zu sein. Sie konnten es kaum erwarten, und er, Lokman, war ihr Fahrer ins Reich ihrer Träume.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Lokman zuckte zusammen.
„Könntest du bitte anhalten? Wir müssen aufs Klo!“
Eine der Frauen stand neben ihm und lächelte ihn an.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor eins.
„Ein paar Minuten noch, dann kommen wir zu einem Teehaus.“
Er parkte den Bus zwischen Fernlastern neben dem Teehaus. Während die Frauen hinein gingen, kontrollierte er die Reifen. Dann folgte er ihnen.
Im Gastraum saßen Lastwagenfahrer und schaufelten ihr Mittagessen in sich hinein, manche tranken Bier dazu. Sie warfen den Frauen Blicke zu und machten Bemerkungen, die sie offenbar witzig fanden.
Lokman setzte sich an den Tisch, der den Männern am nächsten war.
„He, Mann, sind das alles deine Töchter?“ rief einer der Biertrinker hinter seinem Rücken, ein unrasierter Mann mit dicken Armen. Er trug eine Trainingshose und ausgelatschte Turnschuhe, ein schmieriges Unterhemd spannte sich über seinen Bauch.
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