Energa wollte jedoch auf ihr Spezialthema zurückkommen und würgte den fundamentalistischen Denker ab: „Zurück in die Gegenwart. Ist man in den anderen Ländern zufrieden mit dem eigenen Schulwesen und der Ganztagsschule? Was heißt denn überhaupt Ganztagsschule? Im Grunde geht es doch nur um Ganztagsbetreuung. Diese ist realistisch und vernünftig, wenn sie der Bedarfslage der berufstätigen Eltern entspricht. Es geht also letztendlich nur um einen Schülerhort, der in eine Schule integriert ist. Interessanterweise reduziert man mit dem Ausbau der Ganztagsschule das Angebot der externen Kinder- und Schülerhorte, die bisher sehr gute Arbeit geleistet haben. Die Kinderhorte hatten ein gutes Niveau, das Programm an den Ganztagsschulen ist verglichen damit eher flach, weniger individuell, hat einfach schlechtere Qualität. Die Schüler werden morgens in den Schulräumen unterrichtet und nachmittags darin auf Billigniveau verwahrt, nur weil man bei den Horten einsparen möchte.“ „Satt und sauber“, rief jemand aus Richtung der Pinnwände. Vielleicht war er gedanklich schon ins Altersheim gerutscht, mutmaßte Nina. Morgens beschult, nachmittags verwahrt! Immer in den gleichen Gebäuden! Das würde besser passen. Und sauber war’s in der Schule oft gar nicht.
Der Zwischenruf störte die angefixte Energa nicht: „Und ob man durch ehrenamtliche Ganztagsbetreuung, gestemmt von rüstigen Senioren, auch noch Bildungsgerechtigkeit erreicht, wage ich sehr zu bezweifeln. Chancengleichheit ist erstrebenswert, aber wie soll Schule das schultern? Einerseits erzeugt sie Ungerechtigkeit durch Bewertung und Selektion und die meisten nehmen das hin und finden das ganz selbstverständlich. Andererseits soll noch mehr Schule für Bildungsgerechtigkeit sorgen. Sehr widersprüchlich! So lange Schule eine Selektionsfunktion hat und Lebenschancen zuteilt und dieses System allgemein als passend empfunden wird, kann sie nicht gleichzeitig ein Medikament gegen die Ungerechtigkeit in der Zuteilung von Bildungschancen sein.
Und mal ganz nebenbei – in der Schule sitzen die Schüler ebenfalls immer länger vor Computern. In den ach so innovativen Schweizer Schulen ist der Computerarbeitsplatz die Zukunfts-Heimstatt des Schülers, wie auch der Kollege vorhin sagte. Einen ganztägigen Schulbetrieb als Heilmittel gegen die soziale Schieflage zu empfehlen, halte ich für vermessen. Was für eine Schul-Allmachtsphantasie! Mit diesem Helfersyndrom, das sie noch zu besonders edlen Menschen mit sozialer Gesinnung kürt, wollen Pädagogen ernsthaft und Bildungslobbyisten für Geld die Welt retten. Aber will die Welt durch Schule gerettet werden? Die Schulgläubigkeit geht hier eindeutig zu weit. Das klingt nach unrealistischen Heilsversprechen, die auf die Gutgläubigkeit von Eltern und Pädagogen setzen. Fragt man eigentlich die Schüler, was sie wollen?“
Einige Frauen im Seminar fanden wohl, dass sich Energa zu sehr aus dem Fenster lehnte und fingen an halblaut miteinander zu reden, um sie zum Schweigen zu bringen. Mobbing-Methoden, dachte Nina. Warum trugen diese Damen nicht selbst etwas zur Diskussion bei? Energa blieb aber einfach stur bei ihrem Thema, der Ganztagschule: „Haben sich wirklich pädagogische Idealisten solch eine Zwangsbeschulung auf billigstem Verwahrniveau ausgedacht, in der Kinder und Jugendliche sozial überreguliert werden? Oder ist es gar die Wirtschaft, die Menschen auf stundenlanges Eingesperrtsein in Banken, Büros und Fabriken vor Computern vorbereiten will und den Leistungsgedanken in die jungen Menschen hineindrücken und deren Leistungspotenzial dann im Teamwork voll ausschöpfen möchte?
Man könnte den Eindruck gewinnen, hier werden junge Menschen früh auf die totale Ausbeutung vorbereitet. Außerdem wird die Kinderbeaufsichtigung so dringend gebraucht, weil sich beide Eltern im postmodernen Sklavenprekariat Nerven und Gesundheit ruinieren müssen. Ist Schule wirklich so gesund, so motivierend und so freundlich für Schüler, dass es förderlich für sie ist, sich dort so lange wie möglich aufzuhalten? Niemals. Warum macht man die gut funktionierenden Kinderhorte kaputt? Um Räume und Personal einzusparen? Schule ist doch keine Heilanstalt für Schüler und Lehrer, ja für die ganze Gesellschaft! Von unbeschwerter Kindheit bleibt kaum etwas übrig.“ Der letzte Satz erzeugte endlich wieder eine zustimmende Atmosphäre im Pestalozziraum. Viele Kollegen gaben Energa hierin anscheinend Recht und nickten.
„Die Schulleitungen haben kein Geld für Personal, haben keine Lehrerstunden und keine geeigneten Räume. Aber sie sollen die Ganztagsschule improvisieren. Da werden sogar ältere Schüler als Hilfskräfte rekrutiert, Rentner und auch mal Studenten. Man wurstelt sich durch. Und das alles auf dem Rücken der Schüler. Und man macht den Eltern falsche Versprechungen von den Wohltaten der Ganztagsschule.“
Dann schloss Energa noch einen historischen Exkurs an, der einigen jüngeren Kolleginnen den sichtbaren Generationenkonflikt in die Mimik trieb: „Der Kollege vorhin hat Recht. Bildung war historisch gesehen, ewig ein Privileg der Reichen. Für sie gab es Privatunterricht. Erst existierten hauptsächlich kirchliche Bildungsstätten. Und Mitte des 18. Jahrhunderts entstand der Wunsch in Deutschland Volksschulen einzurichten, aber erst im 19. Jahrhundert erreichte man annähernde Flächendeckung. Die Volksschule war für die sozialen Unterschichten, Proletariat und Bauern, gedacht. Übrigens nicht unbedingt, um dem Volk viel beizubringen, sondern vor allem um es zu disziplinieren und die Kinderarbeit einzudämmen. Wenn die jungen Menschen zu abgearbeitet waren, wurden aus ihnen keine tauglichen Soldaten.“
Sie lächelte, denn sie wollte ihre Message charmant an die Teilnehmer herantragen:„Um von der Ständeerziehung wegzukommen, forderte die Sozialdemokratie die kostenfreie Einheitsschule für alle. Und in der Reichsschulkonferenz 1920 kam es zu einem Kompromiss, nämlich zur gemeinsamen vierjährigen Grundschule für alle. Nach der Grundschule schlossen weiterhin ständische Bildungseinrichtungen an. So konnte der Gedanke sozialer Gleichheit nicht realisiert werden, denn schon damals dachte man, dass man diese über einen integrative Schulstruktur erreichen könnte.
Seit den 1950er Jahren spricht man wissenschaftlich offiziell darüber, inoffiziell pfiffen es die Spatzen schon lange von den Dächern, dass Kinder aus Mittel- und Oberschicht im deutschen Schulsystem besser abschneiden. Etwas typisch Deutsches ist das übrigens auch nicht. Die aktuelle Diskussion über Bildungsgerechtigkeit ist aus bildungshistorischer Sicht ein déja-vue-Erlebnis. An der sozialen Selektionsproblematik wird aber auch eine Ganztagsschule, selbst wenn sie noch so sehr propagiert wird, nichts ändern, denn man hat festgestellt, dass Schul-Strukturreformen den Einfluss des sozialen Hintergrundes, sprich das Elternhaus, nicht ausgleichen können. Dazu gibt es eine interessante Längsschnittstudie von Fend.
Historisches Denken ist unverzichtbar, wenn man die Schule, so wie sie heute ist, wirklich beurteilen möchte. Da hat der Herr hinten ganz Recht. Fragt sich eigentlich keiner, wer hinter dem Ganztagswahn wirklich steckt? Es sind nicht unbedingt die Eltern und auch keinesfalls die Schüler und sicher nicht die Kollegen, denen noch ein Rest kritischen Denkens geblieben ist. Aber wer ist es dann und warum möchte man junge Menschen pädagogisch getunt zwangsinternieren?“
Energa holte tief Luft und beendete damit ihre ausführliche Stellungnahme. Sie hatte ein puterrotes Gesicht vor Anstrengung, hatte sie doch gegen atmosphärisch spürbare Widerstände angeredet. Aber bevor jemand antworten konnte, schaltete sich Herr Bucher ein: „Ich bin sehr erfreut darüber, dass hier so offen gesprochen wird. Ehrlich gesagt, erlebe ich das nicht so häufig. Mir scheint, die meisten Lehrer orientieren sich stark an ihren Kollegen. Keiner will sich aus dem Fenster lehnen. Man sucht in der Regel nach den unsichtbaren Beamten-Anpassungsgrenzen und hält sich an diese. Ängstlich bemüht auf Linie zu bleiben. Heute ist das Gespräch jedoch sehr lebhaft und ich möchte Ihnen herzlich für Ihre Offenheit danken.“ Er nickte aufmunternd hinüber zur Energa.
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