Der Lehrer, der also ein Problem erkennt und darauf aufmerksam macht, wird dafür nicht anerkannt, geschweige denn geliebt. Nein, er wird von den hartnäckigen Eltern angegangen und diese scheuen auch nicht davor zurück, ihn bei Vorgesetzten aller Ebenen schlecht zu machen. Hier ist dann kein Weg zu weit und die Energie ist plötzlich da. Auf keinen Fall möchte man sich und anderen eingestehen, dass zuhause etwas schief läuft und dass man eventuell sogar selbst mit daran beteiligt ist oder war. Diese Eltern sind für uns Lehrer so problematisch. Und wenn die Schulleitung wie in diesem Fall das Problem so locker an den Lehrer zurückreicht, kann ich nur empfehlen, sie auf alle Fälle mit ins Boot zu holen.“ Die Mehrheit klopfte zustimmend auf den Tisch.
Eine Kollegin aus einer Gemeinschaftsschule meinte: „Warum lasst ihr Schüler und Eltern nicht eine Zielvereinbarung unterschreiben?“ Ein nervöses Kichern war daraufhin im Raum zu hören. Aber die engagierte Kollegin fuhr fort: „Das Leitbild der Schule gilt für alle. Und wer sich nicht an diese neue Schul- und Lernkultur hält, muss ein deutliches Feedback erhalten.“ Herr Bucher fand diese Idee innovativ. Anschließend sorgte der Trainer für eine Pause und öffnete die Fenster.
Nina’s Arbeitsgruppe stand noch kurz zusammen: „Mensch, habt ihr die Eltern überzeugend gespielt“, meinte Andreas. „Aber ihr als Lehrer wart wirklich auch sehr professionell“, lachte Michael. „Darauf hole ich mir jetzt ein Mineralwasser“, sagte Nina, „vielen Dank, es hat Spaß gemacht mit euch.“
Das nächste Rollenspiel thematisierte ein Einzelgespräch zwischen einem Schüler und seinem Klassenlehrer. Es ging um Unterrichtsstörungen und fehlende Arbeitsunterlagen. Das Übliche. Der Klassenlehrer musste sich überlegen, wie er den Schüler wieder auf Kurs bekam, ihn individuell coachen. Der Schüler sollte wieder etwas für die Schule arbeiten und sich besser organisieren. Ein Ewigkeitsthema in der Schule. Lehrer versuchen zu motivieren und leisten Überzeugungs- und Erziehungsarbeit, die ihnen in manchen Fällen sogar noch negativ ausgelegt wird.
Der Kollege aus Freiburg hatte wieder einen Kommentar parat: „Da wird doch ständig von individuellem oder individualisiertem Lernen gesprochen. Und von Selbstverantwortung und Eigenverantwortung. Warum müssen wir Lehrer dann noch unsere Schüler zum Jagen tragen? Wer nichts tut, soll sehen, wo er bleibt, wenn die Zielvereinbarung nichts nützt. Das ist doch das Fazit dieser angeblich so neuen Konzepte. Ein Lehrer, der auf seine Schüler so eingeht wie ihr in eurem Rollenspiel, ist doch hoffnungslos altmodisch. Es kann sogar sein, der Schüler regt sich über diese Kritik auf, die Eltern ebenfalls und schließlich gibt es eine Beschwerde an die Schulleitung und dann ans Schulamt.
Der Stil in der Schule ist dabei sich zu wandeln. Weg von Pädagogik und sozialem Lernen hin zu egoistischem, konkurrenzorientiertem, streberhaftem Denken. Das ist zumindest mein Eindruck. Konkurrenz vor Solidarität, Einzelkampf statt Gemeinschaft. „Individualisierung“: Wie schick sich das anhört! Lehrern wirft man vor, sie seien angeblich Einzelkämpfer und Schüler macht man an ihren Computerarbeitsplätzen und mit wechselnden Lerngruppen zu Einzelkämpfern! Das ist der heimliche Lehrplan des Individuellen Lernens.“
Einige Teilnehmerinnen schüttelten die Köpfe, als ob sie die Welt- und Bildungssicht des Freiburger Kollegen absolut nicht teilten. Aber dieser hatte sein Statement noch nicht beendet: „Unsere Wirtschaftsform verlangt soziale Entwurzelung, um effizient und wettbewerbsfähig zu sein. Und mir scheint, man fängt jetzt in der Schule schon mit der Entwurzelung an, indem man den Klassenverband auflöst und den individuellen Computerarbeitsplatz zur Heimat des Schülers erklärt. Man hat den Eindruck, hier überrollt uns demnächst eine Art von Bildungsindustrie, der es gar nicht mehr um die Menschen geht, sondern nur um modularisierte Bildungskonserven, die sich gut vermarkten und instantmäßig verabreichen lassen. Ich würde mal sagen, ziemlich frühzeitige Dressur in Richtung Arbeitsleben. Vereinzelung und Entsolidarisierung ist das Resultat. Hurra, wir züchten uns unsere Autisten und Sozialneurotiker selbst. Den Kinderpsychologen wird die Arbeit nicht ausgehen.“ Einige Männer klopften jetzt doch anerkennend auf die Tische. Herr Bucher moderierte die Diskussion hervorragend. Nina bewunderte seine Gelassenheit. Die war sicher hart erarbeitet.
„Ach, das ist doch Käse“, meinte eine etwa 30-jährige Lehrerin, der man ihre grüne Gesinnung an ihrer selbstgefilzten erdbraunen Jacke mit violetter Blüte schon ansah. „Das Schulsystem ist endlich dabei sich zum Guten zu wandeln. Alles wird flexibler und lockerer. Es gibt keine Schulglocke mehr, die mit ihrem harten, unbarmherzigen Ton den Schultag brutal in 45 Minuten-Stücke zerhackt. Der Schultag ist endlich rhythmisiert! Die Eltern können selbst die Schulart für ihr Kind wählen und brauchen das dann, wenn die Gemeinschaftsschule mit Inklusion überall greift, gar nicht mehr tun. Da ist das Elternwahlrecht dann gar nicht mehr relevant. Man kann mehr projektorientiert arbeiten, schülerorientiert, individualisiert, eigenaktiv, mehr experimentieren. Freiarbeitsbänder im Stundenplan setzen sich immer mehr in allen Schularten und besonders in der Gemeinschaftsschule durch. Wir werden Lerncoaches. Hört sich doch besser an als die altmodische Berufsbezeichnung Lehrer, oder?“
Sie schaute herausfordernd in die Runde: „Es gibt andere Formen der Benotung und Beurteilung, die Kompetenzraster. Diese Form der Lernentwicklungs- und Lernstandserhebung macht die Schule viel gerechter, nivelliert viel besser und nimmt die Schüler eigenverantwortlich mit ins Boot. Jeder Schüler kann verstehen, wo er steht und wenn er lernschwach ist, erhält er Lernjobs auf niedrigem Niveau. Geht doch. Wir haben bereits best-practice-Schulen, die schon ganz nah am Schweizer Ideal sind.“
Nina kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier blieb kein Auge trocken. Aber die Filzfrau haute noch einen Nagel rein: „Und dann endlich die Ganztagsschule. Das ist doch eine echte Errungenschaft.“ Nina fragte sich im Stillen, für wen diese Errungenschaft so gut war. Aber Erdmute gab Gas: „Ich lasse mir meinen Idealismus nicht zerstören von einigen alten, unflexiblen Kollegen am Rande des Burn-out. Die blockieren doch alles Neue, die tollen Ideen! Unser Rektor ist erst 39 und ein Change Agent. Unsere Schule wird geführt wie eine Firma. Das Beamtentum wird hoffentlich bald abgeschafft. Wozu braucht der Staat Beamte? Wir wollen einen bundeslandfreien Lehrermarkt! Die Lehrerausbildung wird egalisiert und sonderpädagogisch ergänzt. Endlich! Alle Lehrer sind dann pädagogisch ausgerichtet, orientieren sich an den gleichen Strukturen und werden gerecht und gleichwertig bezahlt. Ich schätze mal A 13. Super finde ich das. Voll effizient! Wir evaluieren alles und besprechen das dann im face-to-face-Kontakt. Unser Change-Agent weiß, wie Personalentwicklung zu laufen hat. Ich lebe im Vertrauen.“
Wahrlich eine knackige Ansage, dachte Nina. Gerne würde sie sich 15 Jahre voraus in die Zukunft beamen und sehen, was aus dieser postmodernen Filzfrau geworden ist. Vielleicht war sie dann Patientin in einer Burnout-Klinik, die sie selbst zahlen musste, weil die Krankenkasse für solche Kinkerlitzchen nicht mehr aufkam. Vielleicht erklärten ungeduldige und mobbishe Kollegen ihr, welch ein Bremsklotz sie war und fragten sie, warum sie sich nicht an das neue Leitbild hielt. Und nicht die richtige Haltung einnahm? Und warum sie ständig von Ausbeutung faselte. Beamtin war sie wahrscheinlich nicht, deshalb wurde sie spätestens in dieser Phase als unrentabel entlassen.
Jetzt meldete sich eine energische Lehrerin, eine echte Energa, zu Wort, die schon einige Dienstjahre hinter sich hatte: „Ganztagsschule. Wenn ich das schon höre. Es hat schon immer Nachmittagsunterricht an deutschen Schulen gegeben. Von wegen deutsche Halbtagschule, das ist doch absoluter Quatsch. Die meisten Schüler und Lehrer ab der Sekundarstufe hatten bisher deutschlandweit mindestens zwei Schulnachmittage in der Woche.“ Die Filzfrau runzelte die Stirn. In diese Richtung wollte sie sich gedanklich nicht bewegen. Das konnte Nina an ihrem Gesichtsausdruck ablesen.
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