„Siehst du noch jemanden, der das gemacht haben könnte?“
Sie lächelte und er hätte das gerne kommentiert, dass sie ihn zitierte, aber im Augenblick verschlug es ihm die Sprache. Das passierte ihm normalerweise nicht. Er war Lucas Austen, er hatte immer was zu sagen!
„Heilerin.“
Heilerin … na klar. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen?!
Das war doch schon immer eindeutig gewesen. Nicht wirklich.
„Heilerin?“
„Krieg keinen Anfall. Ich kann nur ein paar Schrammen heilen und ich benutze die Fähigkeit normalerweise nicht, okay. Es ist nichts Besonderes. Können wir jetzt gehen. Ich hab richtige Kundschaft.“
Was sollte das heißen? Nichts Besonderes?
„Richtige Kundschaft? Hey, was denkst du, was ich bin?“
„Ein Arsch. Feuerarsch, vielleicht.“ Sie schmunzelte in seine Richtung, dann deutete sie mit einer Geste in den Laden. „Komm jetzt.“
Er tat ihr den Gefallen und während Chris die Tür hinten sich zuschloss und kurz mit einem Mädchen, Lucas schätze sie auf 15, sprach, überlegte er, was er tun sollte. Jetzt hätte er für Kaffee getötet. Aber er war einer von den Guten.
Chris – Schwarzmäntelchen – Harold war eine Heilerin! Das war Schicksal. Ein ganz beschissenes Schicksal, wenn er bedachte, das Heiler ihre Gabe nicht an sich selbst anwenden durften. Eine Schande, wenn er an die Prellungen und dunklen Schatten in ihrem Gesicht dachte. Auch heute hatte er was davon entdeckt. Es war ihm aufgefallen, aber er sah weg. Vielleicht hätte er mal früher hingucken sollen. Seine Traumfrau eine Heilerin. Das war ja verrückt.
Vor allem das mit der Traumfrau.
„Ich habe dann alles für dich zusammengestellt.“
Er riss sich von seinen absurden Gedanken los und sah zu Chris. Sie stand da hinter der Theke und wartete an der Kasse auf ihn. Wie sie so dastand, fand er, sie gehörte da hin. Eher hier hin, als in die drittklassige Bar. Die Frage war nur, ob sie im Moment woanders hingehören konnte.
Es war riskant. Sie war womöglich wirklich ungeübt. Es konnte sie überfordern. Er konnte ihr vor allem nichts erzählen. Er war ja nur Oberer in Vertretung, so eine Entscheidung sollte er nicht über Wescotts Kopf hinwegtreffen. Nicht mal, wenn der nie wiederkäme.
Er ging zu ihr herüber und während er zahlte, beugte er sich unauffällig zu ihr.
„Wirklich nur Schrammen, sagst du?“
„Wirklich. Ich sagte doch, ich nutze sie nicht. Manchmal wache ich auf und denke, ich bilde mir das alles nur ein. Aber dann hätten wir beide eben die gleiche Halluzination haben müssen, nicht wahr?“
Er glaubte ihr. Ihre Augen logen nicht. Und er konnte es auch nicht. Weder sie belügen, noch sie der Gefahr aussetzen, die der Versuch Rhylee zu heilen, mit sich brachte. Das war weit mehr als eine Schramme. Womöglich schaffte sie es sowieso nicht. Schicksal hin oder her. Er wusste, wann es besser war, das Schicksal nicht herauszufordern. Immer dann, wenn man nicht bereit dafür war den Preis zu bezahlen. Denn eines lernte ein Talamadre sehr schnell: Magie hatte immer ihren Preis.
„Brauchst du sonst noch was?“
„Nein danke.“ Er nahm die Tüte, die sie ihm hinhielt und lächelte sie an. Wieder ganz der Alte. Daher meinte er seine Worte auch so, wie er sie sagte. „Wir sehen uns.“
Er verließ den Magic Shop nicht so beschwingt, wie er ihn betreten hatte. Die Nachdenklichkeit musste er dringend mit Kaffee herunterspülen. Er wählte im Überqueren der Straße eine Nummer.
„Kent? Ich hab die Sachen. Sag Aldwyn, er soll Kaffee kochen, ich bin in einer halben Stunde da. Meeting im Konferenzraum, ich will alle dabei haben.“
Er stieg in den Wagen, startete den Motor und ließ den Laden, Chris Harold und jeden Gedanken daran, ob er sich richtig entschieden hatte, hinter sich. Für Lucas gab es nur den Weg nach vorne. Es galt ein Leben zu retten.
Lucas
“ I try hard to make sure I will succeed. You can also say I never give up, but it sounds much easier than reality proves to be.”
Miami, 13.03.2017
Lucas fand, er machte sich als Oberer bislang sehr gut. Und das ganz ohne, dass er seine neugewonnene Macht ausgenutzt hatte. Obwohl die Aussicht Urlaubsregelungen zu ändern, oder sie wenigstens schriftlich festzuhalten, verlockend waren. Kleiner Scherz. Er war überzeugt, dass Mr. Wescott diese ignorierte, sobald er zurückkam.
Wenn er denn wiederkam.
Blieb er fort, verschollen oder dieser Mann, der nicht James Wescott gewesen war, dann waren Urlaubsregeln ihr letztes Problem. Wer sollte die britischen Talamadre anführen? Er ganz sicher nicht! Ein Schreibtischjob in kurzer Vertretung war okay, aber er konnte sich das nicht für den Rest seines Lebens vorstellen. Wer blieb da noch übrig? Jerry?
Den konnte er sich in der Position zwar vorstellen, aber die Aussicht Jerry als Chef zu haben, war nicht aufbauend. Er verlangte selbst Lucas unglaublich viel Geduld ab. Und Lucas besaß davon überdurchschnittlich viel. Wie andere mit ihm klar kamen? Entweder waren sie vom gleichen Schlag Mensch wie Jerry oder aber sie kamen nicht mit ihm klar. So einfach war das. Jeremy spaltete die Menschen um ihn herum in zwei Lager. Dass ihn das kein bisschen kümmerte, schätzte Lucas an ihm. Das ließ ihn hoffen, dass Jerry in Wahrheit viel umgänglicher war, als er zugab.
„Lucas. Das ging schnell“, begrüßte Jeremy ihn, als Lucas zurück im Ordenshaus war.
„Natürlich ging es schnell. Ich bin zielstrebig, weißt du doch.“
„Und normalerweise unorganisiert.“
„Nein, Jerry. Du denkst, ich sei unorganisiert. In Wahrheit habe ich bloß meine eigene Struktur.“ Lucas hob die Hand. „Vertiefen wir das Thema nicht weiter.“
Dafür hatten sie nun wirklich keine Zeit. „Hast du allen Bescheid gegeben?“
„Ja, sie sind alle im Konferenzraum versammelt. Annabelle und ich haben den Raum vorbereitet.“
„Sehr gut.“ Wenn er wollte, konnte Jeremy ja richtig engagiert sein. Oder Lucas machte als Oberer einen noch besseren Job, als er geglaubt hatte. Vielleicht stand es um die Talamadre doch nicht so schlimm.
Der Gedanke hielt nur zwei Sekunden.
„Bist du dir sicher, dass wir es probieren sollen? Keiner von uns hat das je gemacht? Ich bin immer noch der Auffassung, es wäre besser, zu warten.“
„Damit riskieren wir Rhylees Leben. Wir können nicht länger warten, Jerry.“
„Dann bitte die Amerikaner um Hilfe. Die sind besser aufgestellt. Sie haben nicht nur mehr Mitglieder, sondern auch mehr Erfahrung. Sie könnten uns helfen.“
„Wir brauchen ihre Hilfe nicht.“ Lucas legte allen Optimismus, den er aufbringen konnte, in seine Stimme. Er klang verdammt überzeugt. Aber Wescotts Warnung und seine eigenen Überlegungen waren ihm einfach noch zu gut im Ohr.
„Wenn sie hätten helfen wollen, hätte Dylan Brooks ein solches Ritual schon längst von sich aus vorgeschlagen.“
„Willst du behaupten, sie hat es absichtlich nicht getan? Das ist doch lächerlich, Lucas.“
„Vielleicht. Fakt ist, sie hat ihre Hilfe nicht angeboten und ich glaube daran, dass jeder von uns hier gut genug ist, um das Ritual zu einem Erfolg zu bringen.“
„Und wenn es schief geht?“
„Liegt die Verantwortung bei mir.“
Jerry nickte. Ihm war ja nicht bewusst, wie wahr Lucas‘ Worte waren. Er war der Obere. Die Verantwortung lag tatsächlich bei ihm. Sämtliche Bedenken schob er beiseite, als er an Jerry vorbei in den Raum trat. Der folgte ihm und schloss die Tür, während die Gespräche verstummten. Gerry stand zwischen Daniel und Emily. Aber er war da. Obwohl er im Licht der Nachmittagssonne blass aussah. Er war am Ende seiner Kräfte.
Lucas ging mit einmal ein Licht auf. Es war so klar, wie Wasser in einem Gebirgsbach. Das war der Moment. Sie hatten nur diese eine Chance. Wenn es nicht funktionierte, war es vorbei. Und wenn er Gerrys Gesichtsausdruck richtig deutete, wusste er es auch.
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