1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Der Mann reichte ihr die Prospekte und den Umschlag: »Sie fliegen nach Tansania? Mafia Island? – Eine Trauminsel! Ich bin übrigens auch –«
»Ja, ja, danke«, schnitt Katharina ihm das Wort ab. Sie nahm die Unterlagen und schob sie zurück in ihre Handtasche. Sie wollte endlich weitergehen.
»Guten Flug. Und Gott sei mit Ihnen.«
Erstaunt über diesen frommen Wunsch drehte sich Katharina noch einmal zu dem Mann um. Erst jetzt bemerkte sie, dass er unter seinem Jackett ein schwarzes Hemd mit Priesterkragen trug.
Er nickte ihr noch einmal zu: »Adeus!«
Dann ging er in Richtung der Rolltreppen davon.
Gute Figur, dachte Katharina unwillkürlich. Sie musste hysterisch kichern: Südländer. Mittelgroß. Und war »Ministro« nicht auch das spanische Wort für Priester? Katharina war sich sicher, dass der Mann nicht einmal Hölle, Feuer und Schwefel predigen konnte. Geschweige denn regnen lassen.
***
Die Schlange vor der Passkontrolle war kurz. Gott sei Dank. Die Uniform des Beamten hinter dem Schalter ließ Katharinas Herz wieder bis zum Hals schlagen. Bundespolizei! Wenn er sie nun erkannte? Doch er blickte nicht mal auf. Er nahm ihren Pass, blätterte, ohne darin zu lesen und reichte ihn zurück. »Guten Flug.«
Katharina dankte knapp und ging weiter.
Sie legte ihre Handtasche und den Mantel auf das Laufband der Sicherheitsschleuse. Dann ging sie durch den Metalldetektor, der nicht anschlug. Entsprechend behutsam wedelte sie der Mann hinter dem Detektor mit seinem Handprüfgerät ab und winkte sie weiter.
Sie trat an das Laufband hinter dem Röntgengerät. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine rote Lampe neben dem Schirm blinkte. Was war denn?
Eine Beamtin stoppte Katharinas Gepäck. »Tut mir leid, ich muss einen Blick in Ihre Handtasche werfen.«
Katharina wusste, dass jede Widerrede die Prozedur nur verlängern würde. Außerdem hatte sie nichts Kompromittierendes dabei. Oder doch?
Die Beamtin zog das Notebook hervor: »Würden Sie den Computer bitte kurz anschalten?«
Ach ja, richtig: Notebooks galten als gute Verstecke für Sprengstoff. Also nahm Katharina das Gerät aus seiner Hülle, klappte es auf und drückte eine Taste. Der Rechner erwachte zum Leben. »Auch einloggen?«
»Nicht nötig.«
Während Katharina den Computer abschaltete und zuklappte, warf die Beamtin noch einen kritischen Blick auf das Röntgenbild. Katharina beugte sich vor, um selbst zu sehen, was die Beamtin betrachtete: einen hellen Fleck am Boden der Handtasche. Hilfe, das hatte sie ja völlig vergessen.
»Warten Sie, ich kann das erklären.« Katharina griff in die Handtasche und öffnete zwei Sicherheitsnadeln; dann zog sie den eingelegten Boden der Handtasche hervor: zwei dünne Stoffbahnen, in die mehrere Reihen Bleigewichte eingenäht waren. Sie reichte den Boden der Beamtin, die ihn misstrauisch zwischen den Fingern drehte: »Was ist das denn?«
Ja, was? Am besten die Wahrheit. Na ja, die halbe Wahrheit. »Ein Bleiboden. – Wissen Sie, äh …?«
Mit einer kalkulierten Geste, die hoffentlich trotzdem zufällig aussah, wischte sich Katharina über das Gesicht. Sie hoffte, den eben aufgetragenen Puder abzuwischen und ihre Blessuren wieder zum Vorschein kommen zu lassen.
»Das ist so. Ich … mein Ex-Freund …«
Die Beamtin hob wissend die Hand: »Verstehe. – Ich hoffe, Sie haben dem Kerl mit der Handtasche ordentlich eins übergezogen.«
»Nein, ich –«
»Häusliche Gewalt ist kein Kavaliersdelikt, wissen Sie? Haben Sie Anzeige erstattet?«, fragte die Beamtin fürsorglich-streng.
»Nein, ich …« Katharina schämte sich. Genau diese Frage würde sie auch stellen.
»Das sollten Sie aber. – Warten Sie.« Die Beamtin zog ihre Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. »Die hier können Ihnen weiterhelfen.«
Eine Karte vom »Weißen Ring«. Katharina hatte solche Karten selbst schon oft verteilt.
»Aber Sie verstehen, dass Sie das hier nicht mit ins Flugzeug nehmen dürfen?« Die Beamtin hielt den Boden in die Höhe.
»Klar. Ich habe auch nur vergessen, ihn herauszunehmen. Könnten Sie …?«
»Natürlich.« Die Polizistin warf den Boden in einen bereitstehenden Container und wandte sich dem nächsten Fluggast zu.
***
»Meine Damen und Herren, eine Durchsage für den Flug Emirates Airlines 2804 nach Dubai und Dar es Salam: Leider verzögert sich das Boarding um etwa zwanzig Minuten. Wir bitten Sie um etwas Geduld und danken für Ihr Verständnis. – Ladies and Gentlemen, the boarding of flight Emirates Airlines 2804 …«
Verdammt! Noch eine Verzögerung!
Katharina zwang sich zur Ruhe. Sie war im Sicherheitsbereich des Flughafens. Die Dichte von mittelgroßen Südländern um sie herum hatte deutlich abgenommen. Sie nahm die unbequeme Brille ab und verbannte sie in die Handtasche. Vor einem spiegelnden Schaufenster zog sie die beiden Essstäbchen heraus, die ihren Haarknoten zusammenhielten. Sie schüttelte ihre Haare aus, dann band sie sich einen Pferdeschwanz. Das war doch gleich sehr viel bequemer.
Sie stutzte: War es leichtsinnig, jetzt schon so viel von ihrer Verkleidung abzulegen? Andererseits: Wer sollte sie hier noch erkennen?
***
»Guck mal, das ist ja Katharina!«
Katharinas Herz tat einen mächtigen Satz. Doch die Stimme war jung … und klang vertraut. Das war …
Laura! Tatsächlich! Das kleine Mädchen, das sie zehn Tage beherbergt hatte, nachdem ihre Mutter getötet worden war, kam freudestrahlend auf sie zugesprungen, ihren Vater, Tom Wahrig, an der Hand hinter sich her schleifend. Was machten die denn hier?
Katharina konnte trotzdem nicht anders. Sie ging in die Hocke und ließ zu, dass das Mädchen ihr um den Hals fiel. Schließlich hatten sie eine Menge miteinander erlebt. Und …
Wann hatten sie sich verabschiedet? Das war erst am Vormittag dieses Tages gewesen. Es kam Katharina wie eine Ewigkeit vor.
»Kommst du doch mit nach Brasilien?«, fragte Laura begeistert.
»Ach nein, Laura. Ich fliege wo anders hin.«
»Echt? Schade!« Laura schob traurig die Unterlippe vor. Katharina konnte es ihr nachfühlen. Sie würde das kleine Mädchen vermissen. Ihr Vater würde mit Laura nach Brasilien gehen, weg aus Frankfurt. Weg von den Erinnerungen an ihre ermordete Mutter. Es war sicher besser so. Aber Katharina hätte nie gedacht, dass sie sich so an ein Kind gewöhnen konnte.
»Wo fliegst du denn hin?«, wollte Laura wissen.
Fast hätte es Katharina verraten. Aber sicher war sicher: »Das kann ich dir nicht sagen. Das ist geheim. Du weißt doch, ich bin …«
»Polizistin!«, rief Laura, bevor Katharina ihr den Finger auf den Mund legen konnte. Sie sah sich besorgt um, aber niemand nahm Notiz von ihnen.
»Und da muss man manchmal Dinge machen, die niemand wissen darf«, erklärte sie dem Mädchen.
»Schon klar«, sagte Laura mit der endlosen Weisheit einer fast Fünfjährigen. »Kommst du uns besuchen?«
»Das habe ich dir doch versprochen. Sobald ich Zeit habe.«
Tom Wahrig räusperte sich: »Laura, unser Flug …«
Katharina nahm Laura fest in den Arm. Das Mädchen erwiderte die Umarmung. Endlich ließen sie einander los.
Laura nahm ihren Vater wieder an die Hand und winkte noch einmal über die Schulter.
Katharina winkte zurück. Sie sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren. Sie würde Laura besuchen. Doch, ganz bestimmt.
***
Wie es der Zufall wollte, befand sich die Emirates-Lounge direkt gegenüber von Katharinas Gate, bewacht von einer ganzen Armada von bulligen Sicherheitskräften.
Katharina ließ sich in einen Sessel fallen: ihre erste echte Ruhepause an diesem Tag. Vielleicht sogar seit zwei Wochen. Seit ihr Leben langsam, aber sicher aus dem Ruder gelaufen war.
Sie sah auf die Uhr: kurz vor neun. Vor vierzehn Tagen um diese Uhrzeit hatte sie verzweifelt zu Hause auf ihrem Sofa gesessen. Polanski, ihr Chef, hatte sie eben nach Hause gebracht. Gegen ihren Willen. Thomas, ihr langjähriger Partner und bester Freund, war keine vier Stunden zuvor getötet worden. Und sie selbst hatte zwei Menschen erschossen. Drogenhändler, die einen Kollegen und vier Jugendliche als Geiseln genommen hatten.
Читать дальше