»Indisches Viertel.« Das hätte Augustin nun wirklich nicht zu erklären brauchen. »Dar Es Salam war immer ein wichtiger Hafen auf der Route zwischen Indien und Europa.«
Mit quietschenden Bremsen – der Wagen hatte also doch welche, wie Katharina erleichtert feststellte – hielt Augustin vor dem etwas heruntergekommen wirkenden Eingang eines Restaurants.
»Bestes Curry der Stadt«, erläuterte er. »Besitzer ist ‘nen Freund von mir.«
Sie stiegen aus. Da fiel Katharina etwas ein: »Ich habe nur Euro. Vergessen zu wechseln.«
Augustin lachte: »Kein Problem. Du hast doch all-inclusive gebucht.«
Er hielt ihr die Tür auf. Das Lokal war dämmerig. Die grob gezimmerten Holztische hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Doch es roch … herrlich. Katharina lief das Wasser im Mund zusammen.
Ein kleiner Inder kam auf sie zu, grüßte Augustin mit Handschlag und deutete eine Verbeugung in Richtung Katharina an. Augustin wechselte ein paar Worte in einer fremden Sprache mit ihm. Dann bedeutete der Inder ihnen, ihm zu folgen.
Er führte sie durch das Restaurant in einen Innenhof: exotische Pflanzen, Blumen in allen Farben, eine Palme, ein paar Farne. Um einen kleinen Teich wuchs hohes Schilf. Ein Paradies. Katharina bedauerte wieder einmal, einen braunen Daumen zu haben. So hatte sie sich immer ihre Dachterrasse gewünscht.
Der Inder geleitete sie zu einem Tisch und bot Katharina höflich den Stuhl an. Augustin erklärte ihm etwas, das Katharina nicht verstand. Doch der Inder blickte mitleidig auf sie und wiegte verständig sein Haupt. Dann ging er ins Gebäude.
»Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte sie neugierig.
»Dass Sie ausgehungert von einer beschwerlichen Reise sind. Und eine Europäerin, die vermutlich noch nie gutes Essen probiert hat.«
***
Katharina überlegte, ob sie Kurtz einmal in dieses Restaurant schicken sollte.
Vielleicht besser nicht. Sonst würde es die nächsten Jahre bei ihm nur Curries geben, während er verzweifelt versuchte, die Speisen nachzukochen.
Der Inder war rasch wiedergekommen und hatte Karaffen mit Mineralwasser gebracht. Dann hatte er begonnen aufzutafeln. Immer wieder brachte er kleine Schälchen mit Variationen aus seiner Küche und drängte Katharina zu probieren.
Katharina aß mehr, als ihr Hunger eigentlich zuließ. Doch endlich war auch ihr Appetit gestillt. Sie konnte einfach nicht mehr.
Während des Essens hatte sie Augustin ausgefragt.
Und er hatte erzählt: Seine Mutter sei Kenianerin gewesen, eine Massai, sein Vater stamme aus Tansania. Sie waren einfache Bauern gewesen, doch mit der Zeit hatten sie sich etwas Wohlstand erwirtschaftet. Und sie hatten gewollt, dass ihr Sohn etwas Besseres wird. Ihn auf die höhere Schule geschickt. Er hatte gute Noten, war sprachbegabt. Und so hatte er ein Stipendium für Deutschland erhalten. In Aachen hatte er Maschinenbau und Flugzeugtechnik studiert. Danach eine kurze Zeit für Siemens gearbeitet. Doch dann hatte ihn das Heimweh gepackt: »Das Wetter! Wie haltet ihr nur das Wetter aus?«
Katharina hatte an den klebrigen Dezemberschneeregen gedacht, den sie in Frankfurt zurückgelassen hatte, und genickt.
Also war er heimgekehrt. Auf Mafia Island wurde damals dieses Resort geplant. Golden Rock. Die konnten jemanden wie ihn brauchen.
»Viele Maschinen! Ganz viele Maschinen!«, schwärmte Augustin. »Wasserversorgung. Elektrizität. Fahrzeuge.« Und dort war er dann geblieben.
»Und jetzt? Bist du Reiseführer?«
»Manchmal. Bei Siemens hatten wir alle so ganz komische Jobtitel. Nur Abkürzungen. Deshalb sage ich jetzt, ich bin MfA.«
»MfA?«
»Mädchen für Alles.« Er wartete, bis Katharina aufgehört hatte zu lachen, bevor er fortfuhr: »Ich kümmere mich um die Maschinen, halte die Fahrzeuge in Ordnung. Ein bisschen Security. Was so anfällt. Und manchmal singe ich deutsche Volkslieder. Für die Touristen.« Mit sonorer Stimme schmetterte er die ersten Zeilen von »Hoch auf dem gelben Wagen«. Die anderen Gäste des Restaurants schauten nicht mal auf. Sie waren wohl an solche Auftritte gewöhnt.
***
Der Inder hatte sich unter vielen angedeuteten Verbeugungen von ihnen verabschiedet. Augustin hatte sie unter dem Einsatz von Gaspedal und Hupe wieder zum Flughafen zurückbefördert. Er raste am schicken Hauptterminal vorbei zu einem Ensemble älterer Gebäude.
»Das ist der alte Flughafen«, erklärte er. »Wird jetzt nur noch für die Inlandsflüge genutzt.«
Ein Wachmann winkte sie lässig durch ein Tor im Zaun. Augustin hielt mit quietschenden Reifen in einem Hangar, in dem drei kleine Passagierflugzeuge standen. Zwei der Flugzeuge hatten schon bessere Zeiten gesehen. Eines wirkte fast neu. »Golden Rock« stand in schwungvollen Lettern auf der weißen Lackierung. Zu diesem Flugzeug führte Augustin sie jetzt: »Du hast Glück. Du kriegst den VIP-Flug.«
Er verstaute ihr Gepäck. Dann fragte er: »Magst du vorne sitzen?«
Katharina bejahte. Er öffnete die Tür zum Cockpit und hob sie umstandslos hoch, damit sie einsteigen konnte. Sie setzte sich auf den Copilotensitz und schnallte sich an. Dann staunte sie nicht schlecht, als sich Augustin auf den Pilotensitz zwängte.
»Na, dann wollen wir mal.« Er bedeutete Katharina, sich das zweite Headset aufzusetzen. Dann startete er den Motor und ließ die Maschine aus dem Hangar rollen, zur Startbahn, die im rechten Winkel die Landebahn für die großen Verkehrsmaschinen kreuzte. Direkt vor ihnen setzte eine große Boeing auf.
»So, das war die Maschine aus Kairo«, hörte Katharina Augustin über die Kopfhörer. Dann sprach er wohl mit dem Tower. Er scherzte in einer fremden Sprache, dann wechselte er zu Englisch.
»Permission for Take-off«, krächzte es aus den Ohrmuscheln und Augustin schob den Gasregler nach vorne. Die Maschine raste die Startbahn entlang. Das Ende kam immer näher. Katharina klammerte sich mit einem unterdrückten Schrei an ihren Sitz. Doch im letzten Moment hob das Flugzeug ab und stieg steil in den Himmel.
»Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …«, knarzte Augustins Bariton aus dem Kopfhörer. Seine Hände tanzten über den Instrumenten und Reglern. Zwischendurch deutete er nach vorne: In der Ferne erhob sich majestätisch der Gipfel des Kilimandscharo. Dann flog Augustin eine sportliche Kurve und nahm Kurs auf den Ozean.
***
Endlich traute sich Katharina zu sprechen: »Kommt man eigentlich nur mit dem Flugzeug nach Mafia Island?«
»Na ja, theoretisch auch mit dem ›dhow‹, das sind diese kleinen Boote.« Augustin deutete nach unten auf das Wasser, auf dem sich kleine Boote mit dreieckigen Segeln durch die Wellen kämpften. »Dazu muss man aber ziemlich seefest sein.«
***
Sie waren etwa eine halbe Stunde geflogen, als Augustin nach vorne zeigte: »Mafia Island.«
Wie ein großer, langgestreckter, in silbrig glitzernden Sand gefasster Jadestein lag die Insel mitten im blauen Ozean.
»Mafia Island hat einen eigenen Flughafen?«, fragte Katharina neugierig.
Augustin wiegte den Kopf hin und her: »Flughafen würde ich das jetzt nicht nennen.«
***
Die Maschine raste dicht über Baumwipfel.
Katharina schloss die Augen.
Hoffentlich wusste Augustin, was er tat. Sonst würde er Ministro eine Menge Arbeit abnehmen. Sie spürte, wie die Maschine absackte, den Boden berührte und wieder in die Luft sprang.
Okay, das war’s jetzt!
Wenigstens würde Katharina mit dem Wissen sterben, wer ihre Familie umgebracht hatte.
Die Maschine setzte erneut hart auf, das Fahrwerk kratzte über den Boden. Katharina wurde nach vorne in ihre Sicherheitsgurte gedrückt. Und dann kam das Flugzeug zu einem abrupten Halt.
Vorsichtig öffnete Katharina die Augen. Sie waren tatsächlich gelandet, und um sie herum lichtete sich allmählich eine dichte Staubwolke.
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