»Natürlich war er es!« Thomas und Susanne rangen wie zwei kleine Kinder auf dem Pausenhof. Katharina drängte sich zwischen die beiden: »Jetzt hört aber auf!«
Es half nichts. Im Gegenteil. Thomas und Susanne packten sie an den Armen. Hilflos schleuderte sie hin und her. Dann gab der Boden nach und Katharine kippte nach vorne.
***
Als sie sich wieder gefangen hatte, waren Thomas und Susanne verschwunden. Eine Stewardess hielt Katharina an einem Arm fest. Auf der anderen Seite stützte sie der kleine Mann vom Nachbarsitz.
»Vorsicht.« Die Stewardess drückte Katharina sanft, aber bestimmt auf ihren Sitz zurück. »Sie waren eingeschlafen. Aber wir erwarten Turbulenzen. Und da müssen Sie sich anschnallen. – Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Katharina zurrte beschämt den Gurt über ihrem Bauch fest. Sie blickte zur Stewardess auf: »Kein Problem. Und verzeihen Sie, aber …«
Die Stewardess nickte verzeihend. »Ein Albtraum? Kommt manchmal vor. Der Luftdruck.« Sie betrachtete Katharina kritisch. »Sie sind ja völlig nass geschwitzt. Ich hole Ihnen ein Handtuch. – Sie sind doch nicht krank?«
»Nein, nein. Nur etwas viel Stress.« Sie zeigte auf ihr lädiertes Auge. »Streit mit meinem Ex-Freund.«
»Aha! Ich … Ich bringe Ihnen mal etwas Eis für Ihr Auge.«
»Danke!«
»Bringen Sie ihr einen Whiskey mit«, mischte sich der kleine Mann ein, der sich gleichfalls wieder hingesetzt hatte. »Mir auch. Und vielleicht was zu essen?« Er drehte sich zu Katharina. »Sie haben das Essen verschlafen.«
»Ich fürchte, wir haben nur noch den Nachtisch übrig. Mousse au Chocolat.« Schokolade. Die Stewardess musste das begeisterte Blitzen in Katharinas Augen gesehen haben. »Ich bringe Ihnen mal zwei Portionen.«
»Danke. Und verzeihen Sie noch mal …«
»Ach, ein Albtraum ist doch gar nichts. – Ich bin gleich wieder da.«
Von allen Turbulenzen unbeeindruckt, schwebte die Stewardess durch den Gang davon. Katharinas Sitznachbar sah ihr begeistert hinterher. Dann bemerkte er, dass Katharina ihn beobachtete, und richtete sich schulterzuckend auf: »Sorry. Aber … wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.«
Der Mann bückte sich nach etwas, das auf dem Gang lag: die Akte. Katharina griff rasch danach, zog sie weg und steckte sie in ihre Handtasche. »Ein geheimer Geschäftsbericht. Ich komme schon in Teufels Küche, wenn jemand erfährt, dass ich über der Lektüre eingeschlafen bin und ihn nicht wieder sicher verwahrt habe.«
»Verstehe. Müssen ja Höllenzahlen sein, wenn die Albträume auslösen.«
Was würde ein Unternehmensberater sagen? »Na ja, eher ein Höllen-Klient.«
»Lassen Sie mich raten: Beratungsresistent, aber er gibt Ihnen an allem die Schuld?«
»So ungefähr. Er weigert sich, alte Schulden zu begleichen, weil er sich nicht daran erinnert.« Das war wenigstens die halbe Wahrheit. Und sie würde den Amendt schon drankriegen. »Und wenn er es nicht war?«, hallte Susannes Stimme in Katharinas Kopf nach. Unsinn!
***
Katharina verstand zwar nicht, warum, aber die Stewardess musste sie ins Herz geschlossen haben. Sie hatte ihr nicht nur einen Whiskey, eine Flasche Wasser, ein Handtuch und ein kleines Schälchen mit Eiswürfeln gebracht, sondern gleich drei Schälchen mit Mousse au Chocolat.
»Fliegen Sie auch nach Dubai?«, fragte ihr Sitznachbar.
»Nein, nach Dar es Salam.« Verdammt. Verplappert. Katharina beruhigte sich gleich wieder. Wer sollte schon davon erfahren?
»Tansania. Schönes Land.«
»Wenn Sie das sagen. Ich war noch nie dort.«
»Na, dann haben Sie ein Traumerlebnis vor sich.« Er musterte sie kurz. »Verzeihung. Ich wollte nicht …«
Katharina winkte ab. »Keine Ursache.«
»Und … Ich will ja nicht persönlich werden, aber haben Sie solche Albträume häufiger?«
»Manchmal«, antwortete Katharina knapp.
»Ich glaube, dann habe ich etwas für Sie.« Der Mann angelte nach dem Aktenkoffer, den er unter seinen Sitz geschoben hatte. Er legte ihn auf seinen Schoß und klappte ihn auf. Der Koffer war voller Medikamentenpackungen. »Wo haben wir denn …? Ach da.« Der Mann zog eine Schachtel hervor und drehte sie stolz zwischen seinen Fingern. »Ganz neu entwickelt. Keine Überdosierung. Keine Abhängigkeit. Und es stört nicht die REM-Phasen; ein mildes Euphorikum vertreibt böse Träume. Morph-OX.«
Jetzt hielt der Mann Katharina die Schachtel hin.
Katharina packte die Panik. Es wäre einfach, ihr so eine Giftpille zu verabreichen. Sie zwang sich zur Ruhe. »Ministro?«, fragte sie.
Der Mann blickte sie irritiert an: »Nein, Morph-OX.«
Okay. Da war sie wieder, die Paranoia. Katharina nahm die Schachtel und besah sie sich von allen Seiten. Sie war versiegelt.
»Danke. – Sind Sie Pharmakologe?«
»Schön wär’s.« Der Mann lachte. »Ich bin nur ein einfacher Pillen-Vertreter. Na ja, nicht ganz einfach. Ich bin Vertriebschef für den EMEA-Raum.«
»Fliegen Sie deswegen nach Dubai?«
»Natürlich. Ein echter Boom-Markt. Mit etwas Glück mache ich da morgen den Deal meines Lebens. Und dann hänge ich noch ein paar Tage Dubai dran. Tolle Stadt.«
»Wenn Sie meinen …«
»Doch, immer einen Trip wert. – Apropos: Haben Sie an alle Schutzimpfungen gedacht?«
»Schutzimpfungen?«
»Für Tansania. Schönes Land. Aber das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe. Besser, wenn man da nicht krank wird.«
Oh je. Der Mann hatte recht. Sie hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Andererseits war sie als Polizistin so ziemlich gegen alles und jedes geimpft. Außer …
»Ist Tansania eigentlich Malaria-Gebiet?«, fragte sie.
»Natürlich. Unser wichtigster Absatzmarkt für Resolariam. Sie haben doch an die Malariaprophylaxe gedacht?«
Katharina schüttelte den Kopf.
»Na, das ist aber leichtsinnig.« Der Mann wühlte in seinem Koffer und zog eine weitere Schachtel hervor. »Hier. Nehmen Sie das. Einmal pro Woche eine Tablette.«
»Gibt es da Nebenwirkungen?«
»Wie man’s nimmt. Resolariam wurde im Auftrag der amerikanischen Armee entwickelt. Hebt die Laune und stärkt den Kampfgeist. Und vor Malaria schützt es natürlich auch.«
Bessere Laune, mehr Kampfgeist: Das konnte sie wirklich brauchen. Katharina steckte die Schachteln in ihre Handtasche.
»Und Sie?«, fragte der Mann. »Sie sind eher im asiatischen Raum unterwegs, was?«
Das war jetzt etwas peinlich. Aber besser nicht lügen und sich dabei erwischen lassen. »Na ja, in den letzten Jahren bin ich nicht so oft aus Deutschland rausgekommen. Nur nach Südafrika und in die USA. In Asien war ich noch nie.«
»Südafrika!«, schwärmte der Mann. »Fantastische Krankenhäuser. – Echt? Sie waren noch nie in Asien? Aber Sie sind doch …?«
»Halbk…« Fast hätte sich Katharina erneut verplappert. »Halbjapanerin. Aber ich bin in Deutschland aufgewachsen.«
»Noch nie in Asien! Das ist wirklich ein Verlust. Hongkong ist eine tolle Stadt. Die hübschesten Ärztinnen auf der Welt.«
Der Mann schwärmte weiter von den Ländern, die er bereist hatte: Australien – »die fünfzig giftigsten Schlangenarten der Erde. Ein Traum für unser Geschäft mit Antiseren«, China – »nirgendwo setzen wir mehr Amphetamine ab«, Los Angeles – »jede Schlankheitspille, die Sie sich nur denken können.«
Katharina ließ ihn reden.
***
Mitten in der Nacht waren sie in Dubai gelandet. Der Mann hatte sich freundlich verabschiedet, wohl im festen Glauben, eine Freundin fürs Leben oder zumindest eine treue Kundin gewonnen zu haben. Vermutlich seine ganz persönliche Variante des Miles High Club.
Neben ihr saß jetzt ein schweigsamer Araber im Maßanzug. Seine Finger spielten nervös mit einer Zigarettenschachtel, während er ein Kaugummi nach dem anderen kaute.
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