All das registrierte Blake, während hinter ihm die Tür knarrend ins Schloss fiel.
»Nigel, lassen Sie uns allein. Ich möchte ungestört mit unserem Gast reden.«
Die Stimme des greisenhaften Grafen tönte wie eine Eisenglocke und strafte seiner scheinbaren Gebrechlichkeit Lügen.
»Sehr wohl, Eure Lordschaft.«
Blake erwartete ein neuerliches Knarren der Tür, aber es blieb aus. Als er einen kurzen Blick über seine Schulter schickte, ließ er sich seine Verblüffung nicht für eine Sekunde anmerken. Der Lakai war fort, wie vom Erdboden verschluckt.
Der Inspektor sah sich um. Der Raum in dem er sich befand erinnerte ihn stark an einen Thronsaal, und er wirkte auf ihn sehr viel größer als er vermutlich war. Dazu trug auch die enorme Deckenhöhe bei, die er auf mindestens vier bis fünf Yards schätzte.
Der Graf stand auf einer, über drei Stufen erreichbaren, hölzernen Empore. Er hatte ihm eine Schulter zugewandt und betrachtete mit verschränkten Armen eines der großen Wandgemälde. Das Bild wirkte düster und verbreitete eine unheimliche Kälte. Blake erkannte darauf einen steinernen Opfertisch unter freiem Nachthimmel, auf dem eine nackte Frau lag. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Um sie herum stand zwölf Personen in kuttenähnlichen Gewändern. Sie blickten zum Kopfende des Tisches, an dem ein in weiß gewandeter Mann mit einem Dolch stand.
Für seinen Geschmack hatte Blake genug gesehen. In gewisser Weise passte das Bild ausgezeichnet zu den Galgen an der Tür. Er bemerkte den vor sich stehenden großen Ohrensessel. Aber sich einfach zu setzen hielt er in der augenblicklichen Situation für taktlos.
Noch immer hatte der Graf kein Wort zu ihm gesprochen. Blake beschloss auf sein Spiel einzugehen und abzuwarten. Er ließ seinen Blick schweifen.
Vor die großen Fenster waren schwere Samtvorhänge gezogen worden, was den Raum in ein spärliches Halbdunkel tauchte. An der Wand rechts von ihm befanden sich Bücherregale, die bis zur Decke reichten. Die oberen Buchreihen waren nur über eine angelehnte Sprossenleiter erreichbar. Die Regalböden waren vollgestopft mit zumeist in Leder gebundenen alten Schriften, deren Titel Blake über die Entfernung nicht entziffern konnte. Wenn diese Bibliothek nicht nur als Zierde diente, war der Graf ein belesener Mann.
Plötzlich wurde er durch ein Räuspern des Grafen in seiner Betrachtung unterbrochen. Angus Mackay, der zwölfte Earl of Ross, hatte sich zu ihm umgedreht und war einen Schritt auf ihn zu gegangen.
»Mister Blake, ich heiße Sie auf dem Boden der Mackays willkommen. Früher war es allerdings üblich, dass Fremde sich von selbst im Schloss melden ließen. Ich halte es Ihrer Erschöpfung nach der langen Reise zugute, dass Sie bis heute Morgen gezögert haben. Nachdem Sie nun schon einmal in dem Dorf sind, erlaube ich mir, Sie mit einigen kleinen Eigenheiten unserer Landschaft vertraut zu machen, damit Sie nicht Ihre kostbare Zeit verschwenden.
Sie kamen, soweit ich informiert bin, hierher, um den Fall eines spurlos verschwundenen Mannes zu untersuchen. Jetzt sind Sie mit einem Mord konfrontiert. Glauben Sie mir, Inspektor, dies ist kein Fall für das New Scotland Yard, jedenfalls keine Angelegenheit, die ein Kriminalbeamter zu lösen imstande wäre.
Gegen Wesen, die bei Nacht über die Moore gleiten ohne zu versinken, die oft tage- oder wochenlang nach warmem Menschenblut dürsten und sich gierig vollsaugen, wenn sie ein Opfer gefunden haben, sind die Waffen des Gesetzes stumpf.
Ein Wesen, das nach Belieben verschwindet, wenn ihm Gefahr droht, werden Sie nicht fassen. Und einen, der auf der schmalen Schneide zwischen Leben und Tod schreitet, werden Sie nicht an den Galgen bringen. Oh, ich vergaß, Sie kennen den Tod durch den Strang nicht mehr. Sagen Sie mir, Sie scharfsinniger Kriminalist, wie wollen Sie ein Wesen fassen, wenn es nur zeitweilig in den Körper eines Lebenden schlüpft, um im Moor zu morden?«
Der Graf hatte ruhig und mit verhaltener Würde zu sprechen begonnen, sich dann aber schnell in einen unbegreiflichen Erregungszustand hineingesteigert. Seine Augen schienen zu glühen und um seine Mundwinkel bildeten sich die ersten Schaumfetzen. Sein Atem ging stoßweise und seine Lippen bedeckten das ausgeprägte Gebiss noch unvollkommener als zuvor.
Inspektor Blake mochte es nicht glauben und zwickte sich verstohlen in den Oberschenkel. Er wollte unbedingt ausschließen das alles nur zu träumen. In diesem Augenblick hätte er sehr gern eine von den guten alten Zwangsjacken zur Hand gehabt. Zumindest versuchte er sich einzureden, dass ein solches Hilfsmittel bei dem Grafen Wunder wirken könnte. Blake wollte schon etwas erwidern, hielt sich dann aber zurück. Erst als seine in zahllosen Verhören erworbene Disziplin wieder Oberhand bekam, ging er auf den Ton des Adeligen ein.
»Ich weiß Ihre aufrichtig gemeinte Warnung zu schätzen, eure Lordschaft. Doch es wird mir schwerfallen, mich danach zu richten. Sie werden verstehen, dass mir in der Ausbildung eingeschärft wurde, dass es keine Fälle gewaltsamen Todes gibt, die nicht in die Zuständigkeit der Kriminalpolizei fallen, und somit von ihr aufgeklärt werden müssten. Aber selbstverständlich lasse ich mich diesbezüglich gern eines Besseren belehren. Eure Lordschaft scheinen eine wahre Kapazität auf dem Gebiet des Vampirismus zu sein, mit dessen Auswüchsen ich mich bislang nur äußerst selten befasst habe.«
Als er geendet hatte, fischte er gelassen ein Päckchen Benson & Hedges aus seiner Jackentasche.
»Eure Lordschaft gestatten?« erkundigte er sich höflich.
»Keine Glut in meiner Gegenwart!« stieß der greise Graf streng hervor. »Sie werden es eines Tages schon verstehen.«
Scheinbar achtlos legte der Inspektor seine Zigarettenschachtel auf einen kleinen Tisch neben dem Ohrensessel.
»Ganz wie Sie wünschen, eure Lordschaft. Es liegt nicht in meiner Absicht, Ihre kostbare Zeit zu stehlen. Gibt es weitere Dinge, die Sie mir gern mitteilen möchten?«
»Genügt es Ihnen nicht?« reagierte der Graf sichtlich erstaunt.
»Völlig, eure Lordschaft«, bestätigte Blake. »Ich darf Sie also so verstehen, dass Sie mir anraten, mit meinem Mitarbeiter so schnell wie möglich wieder abzureisen und meinen Vorgesetzten darüber in Kenntnis zu setzen, dass es in Schottland Vampire gibt, gegen die ein Detective Inspector vom New Scotland Yard machtlos ist?«
»So wollte ich das keineswegs verstanden wissen, mein werter Herr Inspektor«, lächelte der Graf. »Ich möchte nur nicht, dass Sie Ihre wertvolle Zeit vertun. Sie können natürlich bleiben, solange Sie wollen. Frisches Blut ist hier immer willkommen. Das Dorf ist abgelegen, und es verirrt sich nur selten ein Fremder hierher, der mit unseren besonderen Gepflogenheiten nicht vertraut ist.« Die Unterhaltung schien an dieser Stelle für den Burgherrn beendet zu sein. »Nigel!«
Augenblick tauchte der Gerufene neben dem Inspektor auf.
Blake hatte auch diesmal keinen Laut gehört. Seine schnellen Blicke konnten auch kein Versteck ausmachen, in dem der Mann sich während des Gespräches verborgen gehalten haben konnte. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als diesen Punkt den kleineren Rätseln dieses Falles zuzuordnen, die sich erfahrungsgemäß von selbst lösten, wenn man die Hauptsache geklärt hatte. Mit seinem Großstadtdenken sträubte er sich immer noch gegen jede übernatürliche Erklärung, so seltsam diese auch sein mochte. Aber er spürte auch, dass in dieser Angelegenheit noch Einiges auf ihn und seinen Sergeant zukommen würde.
Der zwölfte Earl of Ross entließ ihn mit einer würdevollen Handbewegung. Scheinbar etwas verwirrt folgte Inspektor Blake dem Diener des Grafen und ließ dabei bewusst seine Zigaretten zurück. Er wollte das Päckchen zum Anlass nehmen, zu einem Zeitpunkt in die Burg zurückkommen, der ihm passte, und die vergessenen Zigaretten erschienen ihm als ein brauchbarer Vorwand.
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