Stattdessen kaufte er sich ein Häuschen nördlich von Hamburg, mit allem, was er bislang verabscheut hatte. Ein reetgedecktes Bauernhaus in einer spießigen Einöde mit Zierrasen, Obstbäumen und Kois im Gartenteich. Wenig später lernte er an einem bierseligen Donnerstagabend im BP 1 in der Schanze seine neue Freundin kennen. Selena war auf Wohnungssuche. In Kürze würde sie von Leipzig nach Hamburg ziehen, um ihren neuen Job in der Online-Redaktion der ‚Hamburger Nachrichten‘ anzutreten. Sören, Parkers bester Freund, hatte sie mitgeschleppt. Bei der Tageszeitung schrieb Sören im Politikressort und kümmerte sich leidenschaftlich um junge Kolleginnen. Nicht nur privat, sondern auch höchst offiziell. Jeder neue Mitarbeiter bekam eine Art Tutor an die Seite gestellt, der bei der Eingewöhnung helfen sollte. Meist kümmerte sich Sören. Er nahm die Aufgabe besonders wichtig und so schleppte er Selena nach der Vertragsunterzeichnung mit in die Kneipe, wo sie auf Parker traf.
Wenige Wochen später schon, kurz vor Selenas offiziellem Arbeitsbeginn, parkte der kleine Umzugswagen vor Parkers Haus. Es war seine Idee gewesen, dass Selena bei ihm einzieht. Es erschien im praktisch. Zwischen ihm und Liv war gerade Funkstille. Vielleicht konnte er so der verhängnisvollen Affäre entkommen, in dem er einfach Nägel mit Köpfen machte - und sich in eine neue Beziehung stürzte.
In dieser Zeit entdeckte er auch das Segeln wieder für sich, eine Leidenschaft, der er seit Kindesbeinen an frönte, die aber viele Jahre viel zu kurz gekommen war. Er kaufte sich ein Boot, eine Arkona, schwedischer Werftbau, 32 Fuß lang. Perfekt für die Ostsee. Er legte das Schiff an die Schlei, in einen kleinen Hafen zwischen den beiden Brücken, die Angeln im Norden und Schwansen im Süden miteinander verbinden. Von seinem Haus bei Hamburg bis zum Steg brauchte er nur eine Stunde mit dem Auto. Perfekt. Auch Selena begeisterte sich für das Segeln. Das begeisterte wiederum Parker. Liv war schon bei einem Ausflug auf der Alster schlecht geworden.
Statt Koks gab es jetzt in der Agentur Bio-Frühstück, statt Nachtschichten eine bezahlte Mitgliedschaft im Fitness-Club. Die Auftragsbücher der Agentur waren voll, jedes Jahr stellten sie neue Mitarbeiter ein. Zwei Mal mussten sie umziehen, um genügend Platz für siebenundzwanzig Mitarbeiter zu gewinnen. Sie wurden mit Preisen überschüttet: Deutscher Agenturpreis, Directors Club Germany, Deutscher Designer Club, Red Dot Award, iF Design Award, Mercury Excellence Award, Corporate Design Preis und noch viele andere mehr. Im Kreativindex des ‚Manager Magazins‘ landete die kleine Agentur erstmals in den Top Ten. Aber nie war sie so erfolgreich, wie kurz vor Parkers Zusammenbruch, nach seiner Trennung von Selena und der Funkstille zu Liv, als er keinen Sinn darin sah, abends nach Hause zu fahren. Parker arbeitete wieder die Nächte durch, wie damals nach der Agenturgründung, und wieder wurde er angetrieben vom weißen Pulver. Es dauerte nicht lange bis sein Motor, zu Höchstleistung getrieben, Verschleiß zeigte. Das merkte Parker schon früh, ignorierte es aber. Anfangs glaubte er noch, dass er einfach das Koks nicht mehr vertragen würde, also verzichtete er schon bald wieder darauf. Aber der Verzicht zeigte keine Wirkung.
Meetings musste er schlagartig verlassen, bei Gesprächen war er fahrig, konnte ihnen nicht mehr folgen. Immer mehr zog er sich zurück. In sein Büro, ins Homeoffice oder auf die Toilette, wenn er aus heiterem Himmel einen Weinkrampf bekam. Die roten Augen erklärte er mit Heuschnupfen. „Wir schaffen das!“, hatte er doch immer gepredigt. Er wollte und konnte sich einfach nicht eingestehen, dass er sich getäuscht hatte. Auch wenn er das längst wusste. Aber Nein-Sagen und Schwäche zeigen, das hatte er nie gelernt. Im Sozialen versagte er zunehmend, ging immer weniger aus dem Haus. Nur beim Job, da funktionierte er noch einigermaßen - auch wenn die Angstzustände immer bedrohlicher wurden. Seine Akkus waren leer. Ein bisschen konnte er sie wieder aufladen, wenn er am Wochenende an die Schlei fuhr. Beim Segeln war er noch in der Lage abzuschalten, ein wenig Kraft zu schöpfen, so etwas wie Freude zu empfinden. Doch dann nervte plötzlich diese Julia Schneider, die Frau eines Freundes aus dem Segelclub, die sich, aus welchem Grund auch immer, in ihn verliebt hatte. Dabei kannte Parker sie kaum. Ein oder zwei Mal hatten sie in großer Gruppe zusammen Abend gegessen. Sie saß Parker gegenüber, neben ihrem Mann Bert, mehr war da nicht.
Bert war nicht wirklich ein richtiger Freund von Parker, aber sie verstanden sich gut, tranken das eine oder andere Bier zusammen, segelten auch mal gemeinsam, wenn beide alleine an einem Wochenende am Hafen waren. Berts Frau war nur selten mit an der Schlei. Ihr Mann erwähnte sie auch kaum. Nur einmal erzählte er, dass es ihr gesundheitlich nicht so gut ginge. Was genau sie hatte, das erzählte Bert nicht. Nur, dass seine Frau sehr darunter leide, nicht mehr so aktiv sein zu können wie früher, als sie noch eine leidenschaftliche Sportlerin gewesen war.
Parker hatte Julia Schneider kaum wahrgenommen. Mal ein flüchtiges ‚Hallo‘ auf dem Steg. Mehr nicht. Sie war auch überhaupt nicht sein Typ. Parkers Freundinnen waren immer etliche Jahre jünger als er. Und Julia Schneider war älter als Parker.
Als dann die ersten Mails von ihr kamen, war Parker irritiert. Er antwortete nett, aber distanziert. Dann wurden die Mails konkreter. Die Situation überforderte ihn. Parker hatte schon genügend eigene Probleme. Da konnte er sich nicht auch noch um die Spinnereien und die Eheprobleme anderer kümmern. Weil er keinen Bock hatte, auf Julia Schneider zu treffen, schon gar nicht auf ihren Mann, vermied er es fortan, zum Hafen zu fahren. Was hätte er auch zu Bert sagen sollen: „Du, Deine Alte belästigt mich. Kannst Du ihr bitte mal sagen, ich möchte keine Bikinibilder mehr von ihr bekommen und auch keine Schilderungen wie sie sich vorstellt, mit mir Sex zu haben. Stimmt es eigentlich, dass Du keinen mehr hochbekommst? Und dass Du Alkoholiker bist?“ All das hatte sie ihm geschildert. Parker sah es nicht als seine Aufgabe an, sich in fremde Ehen einzumischen. Irgendwann schrieb er ihr, dass er keine Ahnung habe, was sie sich einbilde. Aber er hätte definitiv kein Interesse an einer Beziehung mit ihr. Dann ignorierte er ihre Mails. Er konnte ja nicht ahnen, was er damit auslöste. Kurz darauf brach er zusammen.
Es war erst etwas über anderthalb Jahre her, dass die Angstzustände die Kontrolle über sein Leben übernommen hatten. Überall waren Barrieren. Und sie wurden von Tag zu Tag höher. In zwanzig Jahren hatte er nicht einen einzigen Tag bei der Arbeit gefehlt. Und wenn ihn doch mal eine Grippe oder ein Hexenschuss niedergestreckt hatte, dann arbeitete er vom Bett aus. Doch diesmal hatte er sich krankschreiben lassen. Zwischenzeitlich war er nicht einmal mehr in der Lage gewesen, zum Briefkasten zu gehen. An guten Tagen kam er bis zum Gartentor, an schlechten nicht einmal aus dem Bett. Selbst telefonieren war ihm an manchen Tagen zu anstrengend. Den Einkauf brachte der Lieferdienst des Supermarkts. Freunde durften ihn nur abends besuchen, dann fiel es nicht auf, dass er Gesellschaft nur im Suff ertragen konnte. Alkohol entspannte ihn. Er wusste um die Gefahr, wollte kein Säufer werden, also lud er irgendwann auch keine Freunde mehr ein, erfand immer neue Ausreden. Er musste nicht einmal kreativ sein. Wenn sich Besuch angekündigt hatte, strengte ihn allein der Gedanke daran so an, dass er nachmittags schon über der Kloschlüssel hing und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Nicht selten glaubte er, sterben zu müssen. So wie damals, als alles anfing und er im Auto saß. Mittlerweile war alles noch viel schlimmer geworden. Aus Angst vor dem Tod dachte er sogar einmal an Selbstmord. Nur um nicht mehr diese Angst vor dem Sterben haben zu müssen. In dieser Zeit wurde ihm klar, dass es an der Zeit war, Schwäche zuzulassen und professionelle Hilfe anzunehmen. Er ging zur Therapie.
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