Nicht nur einmal dachte er daran, das Steuer herumzureißen und in einen Baum zu rasen. Einfach nur, damit er die Fahrt nicht fortsetzen musste. Parker wollte nicht sterben, er sehnte sich einfach nur nach einer Pause. Nach einer Pause von all den Strapazen. Nach einer Pause von seinem Leben. Ein paar Wochen in Gips in einem Krankenhausbett, das konnte er sich gut vorstellen. Natürlich müsste es nach einem Unfall aussehen, um nicht zugeben zu müssen, dass er verrückt war. War er das wirklich? Verrückt?
Er sehnte sich nach Autofahrten, wie er sie von früher kannte, als er es genoss, die Straßen entlang zu brettern. Kein Weg war ihm zu weit gewesen. Hinter dem Steuer hatte er die besten Ideen für seine Kampagnen gehabt. In den Anfangsjahren der Agentur lag immer eine Kladde auf dem Beifahrersitz seines schwarzen Saab 900, in die er seine Einfälle kritzelte. Mit seinen Oberschenkeln steuerte er den Wagen, während er sich Notizen machte. Später sprach er seine Einfälle in ein Diktiergerät mit kleiner Kassette, da fuhr er einen Audi Quattro. Zuletzt, in seinem Volvo XC90, ließ er ‚Siri‘ seine Einfälle protokollieren. Früher war sein Kopf auf Autobahnen so freigeblasen wie der Auspuff. Jetzt war er voll, ausgestopft von mit Säure benetzter Watte, die sein Hirn zu verätzen schien. So fühlte es sich für ihn an.
Alles war Parker zu viel geworden. Der Job, die Verantwortung, seine Affäre. Wahrscheinlich setzte ihm auch die Trennung von seiner Freundin zu, mit der er fünf Jahre Haus und Bett geteilt hatte. Dabei hatte er den Bruch durch seine Kälte bewusst provoziert. Er redete sich ein, es sei für Selena, seine Lebenspartnerin, einfacher, wenn sie den Schlussstrich ziehen würde. Dabei war er einfach nur zu feige, es selbst zu tun. Er konnte seiner Freundin keine Liebe mehr geben, weil er sie längst anderweitig verschenkt hatte. An Liv. Aber die nahm das Geschenk nicht an. Und so blieb es bei einer Affäre, die jahrelang köchelte, aber jedes Mal kurz vor dem Siedepunkt wieder abkühlte. „Wir werden wahrscheinlich nie ganz voneinander loskommen“, hatte Liv einmal gesagt. Es waren Sätze wie dieser, die Parker über Jahre hinweg ermutigten, an ein Happy End zu glauben. Sie konnten nicht ohne einander, aber noch weniger miteinander.
Beide steckten in einer anderen Beziehung fest. Sie zofften und versöhnten sich. Sie gestanden sich ihre Liebe. Und am nächsten Morgen schoben sie es wieder auf den Alkohol. Es gab Phasen, in denen Parker dachte, er hätte das alles hinter sich gelassen, Liv endlich überwunden. Dann begann es von Neuem. Es war wie eine Achterbahnfahrt in Endlosschleife. Hätten Freunde ihm so eine Geschichte erzählt, er hätte sie dafür ausgelacht. So dämlich kann doch wirklich niemand sein!
Empathielos sei er, das warf Selena, ihm vor. Romantik und Einfühlungsvermögen seien für Parker Fremdwörter. In ihren Augen war er ein Egomane, der nicht zuhören konnte, dafür umso mehr von sich und seiner Arbeit erzählte. Bei Liv war das anders. Da waren die Rollen vertauscht. Parker konnte sich an jedes noch so kleine Detail erinnern. An jedes Date, jedes noch so belanglose Wort von ihr. Er wusste, was sie vor acht Jahren bei einem x-beliebigen Treffen getragen, was sie zu essen bestellt und was sie getrunken hatte. Sogar an die Reihenfolge der Drinks konnte er sich erinnern. Jede Sekunde hatte er abgespeichert. Aber die Vornamen der Eltern von Selena konnte er sich nicht merken. Als eine Kollegin einmal beiläufig fragte, welche Augenfarbe seine Freundin hat, stockte er. Er musste raten. Liv hat braune Augen, das wusste er sofort. Nach der Trennung von Selena hoffte Parker die köchelnde Affäre endlich zum Kochen zu bringen. Alles konnte er sich vorstellen. Heirat und sogar Kinder. Aber die Trennung von Selena veränderte die Balance in der Beziehung zu Liv.
Er war jetzt Single, sie nach wie vor liiert. Er hatte Zeit, sie Verbindlichkeiten. Er hatte nichts zu verlieren, sie hatte einen Lebenspartner, der ihr Sicherheit gab. Parker musste zusehen wie sich ihre auch immer geartete Beziehung veränderte, musste erkennen, dass sie kippte. Und je mehr er sich bemühte, sie wieder ins Lot zu bringen, und je mehr er sich ins Zeug warf, um so mehr distanzierte sich Liv. Die Nähe, die er suchte, erdrückte sie. „Warum?“, wollte er wissen. Sie scheute das Gespräch. Ihre patzige Antwort: „Darum!“ Das war alles, was er zu hören bekam. Wochenlang hatten sie manchmal keinen Kontakt. Meist war sie es dann, die sich wieder meldete. Mit irgendeiner Belanglosigkeit. Und schon stand er wieder in Flammen, lichterloh. Bis er sich erneut verbrannte.
Um sich abzulenken, stürzte sich Parker noch mehr in Arbeit, holte einen nach dem anderen Auftrag für die Agentur an Land. Steffen, sein Partner, warnte ihn: „Das schaffen wir nicht“. Parker verabscheute das weinerliche Geschwätz seines Freundes. Aufträge abzulehnen kam für ihn nicht in Frage. Jammern, das war etwas für Weicheier. Er hatte das ständige ‚Mimimi‘ satt. Um Steffen zu signalisieren, dass er die endlosen Debatten leid war, stellte er sich vor ihm hin, mit hängenden Schultern und Mundwinkeln, und faltete seine Finger zu einer Raute. „Was soll das denn jetzt wieder?“, raunzte Steffen ihn beim ersten Mal an.
„Wir schaffen das!“, nuschelte Parker. Und zitierte gleich noch einen weiteren Kanzler hinterher, diesmal in einem Tonfall wie Donnerhall: „Basta!“
Fortan wurde die Merkel-Raute zu Parkers Running-Gag, auch wenn Steffen darüber gar nicht lachen konnte. Immer wenn er in Parkers schickes Eckbüro mit Elbblick stürmte, um irgendwelche Bedenken zu äußern, formte Parker erst seine Finger zu der Raute, dann wedelte er mit seiner flachen Hand Steffen aus dem Raum, so als ob er eine Wespe von einem Stück Apfelkuchen vertreiben wollte. Ende der Diskussion. Parker arbeitete die Nächte durch. Er wollte Steffen, und mehr noch sich selbst, beweisen, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte. An manchen Tagen schlief er auf dem grauen Ecksofa in seinem Büro. Wenn er an anderen Abenden nach sechzehn Stunden oder mehr von der Agentur nach Hause kam, gönnte er sich einen guten Tropfen Scotch. Das rauchige Destillat brannte in seinem Rachen. Die Wärme, die er spürte, gaukelte ihm Geborgenheit vor. Anfangs reichte ihm ein Glas für dieses wohlige Gefühl, schnell wurden daraus aber zwei, später auch mal eine halbe Flasche. Gegen die Müdigkeit am Morgen halfen ihm Unmengen an Kaffee, gegen den Kater und die Kopfschmerzen Tabletten. Als das alles nicht mehr half, griff er in seine Schreibtischschublade, kramte das schwarze Kodak-Filmdöschen mit dem grauen Deckel hervor, in dem er einen vergilbten Zettel aufbewahrte, der in den vielen Jahre die Tinte fast absorbiert hatte. Aber die Zahlen waren immer noch zu lesen. Jetzt hoffte Parker nur, dass sein alter Dealer in den vergangenen siebzehn Jahren weder die Telefonnummer noch sein Business geändert hatte. Oder im Knast saß.
Damals, in den Anfangsjahren der Agentur, sausten er und Steffen die Schneepisten jeden Abend hinunter. Sie hatten ihre Erfolgsspur gefunden - und zogen sie durch die Nase. Als Parkers Partner aber sein erstes Kind bekam, änderte sich das schlagartig. Bei Steffen drehte sich plötzlich alles um Windelwechseln, Brei und Kita. Anfangs haderte Parker mit dem plötzlichen Sinneswandel seines Freundes, beschimpfte und bepöbelte ihn ob seiner neuen Prioritäten. Als Steffen ihn bat, Taufpate für seinen Sohn zu sein, sträubte sich Parker zunächst. Aber dann nahm er die Rolle an und wuchs in sie hinein. Er mochte den kleinen Fratz und verbrachte viel Zeit mit ihm. Er konnte Steffen jetzt verstehen. Und so trat auch Parker auf die Bremse, wurde ruhiger und änderte sein Leben. Es war die Zeit, als er die Telefonnummer ihres Dealers aus seinem Telefon löschte, sie für alle Fälle aber in dem kleinen Filmdöschen aufbewahrte. Es sollte Jahre dauern bis er seinen Schreibtisch danach durchsuchte.
Читать дальше