Tanja war ganz entzückt von der Courage des Deutschen. Sie bedankte sich bei ihm erst mit einer Flasche Wodka, die sie mit der Kreditkarte ihres Freundes zahlte, später mit ihrem jungen Körper. Auch den hatte Maxim zum Teil finanziert. Das alles berichtete Tanja dem lädierten Parker am nächsten Morgen, nachdem sie sich erst vorgestellt hatte und bevor sie ihm zum Abschied noch einen blies. Dann ging sie zurück ins Hotel, zurück zu Maxim, ihrem Freund, weil der am nächsten Morgen immer alles bereue, wie sie sagte. Er sei nämlich kein schlechter Mensch. Er sei nur eifersüchtig. Ein Zeichen seiner großen Liebe, wie Tanja es interpretierte. Als Parker drei Stunden später wieder aufwachte, allein in seiner Koje, da glaubte er an einen schlechten Traum, wären da nicht die Schmerzen und Blessuren und Tanjas Tanga neben dem Bett.
Als die Polizei Parker in der Nacht abholte, ihm in das Schlauchboot half, weil seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren, blieben seine Fragen unbeantwortet. Keiner der vier Polizisten sprach Englisch. Oder Deutsch. Und Parkers jämmerliches Türkisch beschränkte sich auf Floskeln und ein paar Bestellungen im Restaurant. Als man ihn unter lautem Protest in die Zelle steckte, glaubte er aber herausgehört zu haben, dass er sich bis zum Morgen gedulden solle. „Yarın, yarın!“, hatte der Beamte gesagt. Den Ausdruck kannte Parker von den Handwerkern, die er beauftragte, immer wenn er Probleme an Bord hatte. Auch wenn nicht ein einziges Mal ein Handwerker tatsächlich am nächsten Tag erschienen war. In dieser Nacht hoffte Parker inständig, dass die Polizei da zuverlässiger ist.
Und tatsächlich, am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht in der Zelle, sitzt er in diesem kargen Raum mit dem grau gesprenkeltem PVC-Belag, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt, und sucht die Wände nach einer Uhr ab. Aber da ist nichts. Nichts außer der blanken Tischplatte auf dem Stahlgestell in der Mitte des Verhörraums, eingeschraubt in den Boden, an dem er auf einem der drei Stühle sitzt und bestimmt schon eine halbe Stunde wartet, seit sie ihn aus der Zelle geholt haben. Die Wände sind weiß verputzt. Außer dem Foto des aktuellen türkischen Präsidenten hängen keine Bilder oder sonstiger Wandschmuck an den Mauern, nicht einmal ein Abbild von Atatürk, dem ‚Vater der Türken‘ und Gründer der säkularen Republik. Und auch der obligatorische Spiegel, den Parker aus unzähligen Fernsehkrimis kennt, fehlt, hinter dem normalerweise ein Polizist den Verhafteten beäugt und alles akribisch protokolliert: ein nervöses Zucken der Beine, ein verräterisches Kratzen am Hinterkopf, ein Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch oder ein gelangweiltes Nasebohren. Stattdessen hängt an der Zimmerdecke eine kleine Kamera. Sie ist auf ihn gerichtet. Im Fernsehen würde die Kamera bedrohlich rot blinken, sie hängt aber einfach nur da. Trotzdem hat er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Totenstille in dem Raum erinnert ihn an einen Friedhof. Das einzige Geräusch, das Parker wahrnimmt, ist die Klimaanlage, die mit einem stoischen Stöhnen gegen die morgendliche Hitze ankämpft, die selbst die Nacht nicht hat besiegen können. Auch vom Flur, den eine massive Tür vom Vernehmungsraum trennt, ist nichts zu hören. Wahrscheinlich ist sie schalldicht, denkt Parker und fragt sich, ob die Vernehmungen, die hier stattfinden, vor dem Lärm von draußen geschützt werden sollen oder andersherum. Ein kalter Schauer jagt ihm den Rücken hinab, als er sich vorstellt, was schon alles in diesem Raum passiert sein könnte. Spuren wären leicht zu beseitigen. Aber vielmehr noch denkt er an das, was womöglich in den kommenden Stunden hier passieren wird.
Fast jeder Zweite aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis hatte ihn davor gewarnt, in die Türkei zu gehen. Viele waren überzeugt, als Deutscher würde man gleich am Flughafen verhaftet. Das Gegenteil war der Fall. Parker hatte noch nirgendwo so viele nette, hilfsbereite Menschen getroffen. Er nippt an dem süßen Tee, der vor ihm auf dem Tisch steht. Ein Polizist hatte ihn gebracht. Selbst im Knast endet die türkische Gastfreundschaft anscheinend nicht, denkt Parker. Hoffentlich bleibt das so.
Der Blick auf die Bucht von Marmaris beruhigt ihn. Auch wenn er sich kaum traut, vom Tisch aufzustehen, im Raum auf und ab zu gehen oder sich ans Fenster zu stellen, um zu beobachten, wie die Uferpromenade langsam zum Leben erwacht. Seine Beine zittern. Aber selbst im Sitzen kann er die ‚New Life‘ sehen. „Was ein tolles, neues Leben“, sagt er leise vor sich hin und schüttelt kaum merklich dabei den Kopf. Er hätte die Yacht besser ‚Welcome to hell‘ taufen sollen. Dabei ist der Name nicht einmal seine Idee gewesen. Als er die Ketsch, eine 43-Fuß-Yacht aus der Feder des australischen Bootsdesigners Bruce Roberts, vor acht Monaten kaufte, da hieß sie schon so. Er hatte sich sofort in den Zweimaster verliebt. Trotz der Altersflecke. Mit ihren 35 Jahren überzeugte die Mittelcockpit-Yacht durch Charme und Individualität. Ein schweres und sicheres Boot, gebaut, um die Welt zu umrunden. Sie war das genaue Gegenteil dieser Joghurtbecher aus moderner Serienproduktion mit ihrer jugendlichen Leichtigkeit und dem gehobenen Lifestyle. Schlanke Linien mochte Parker bei Frauen, aber in seinen Augen musste ein Boot Substanz haben, solide und robust sein. Es musste ihn in stürmischen Zeiten beschützen können. Nicht umgekehrt.
Erst fand er den alten Namen kitschig, wollte ihn ändern, doch als er versuchte, die Buchstaben vom Bug zu lösen, da sah er, dass sie sich in den vergangenen Jahren bereits in den Rumpf eingebrannt hatten. Also beließ er es bei ‚New Life‘. Er hatte eh keine bessere Idee. Wie traurig für jemanden, der Creative Director in der Werbeagentur war, die er zusammen mit Steffen, einem Freund aus Schultagen, gegründet hatte, da waren sie noch Studenten. Mit ihren Kampagnen hatten sie später alle erdenklichen Preise abgeräumt, mit der die Branche sich selbst feiert. Und dann war er nicht einmal in der Lage, einen pfiffigen Namen für seine Yacht zu finden. Für Parker ein Zeichen mehr, dass er völlig ausgebrannt war.
Aber dann freundete er sich mit dem Namen an. Es hätte auch schlimmer kommen können: Poseidon, Albatros oder Panta Rhei oder wie auch immer diese ganzen einfallslosen Typen ihre Yachten nennen. ‚New Life‘ passte wenigstens zu seiner Lebenssituation. Eigentlich war er nur zu faul, das ‚e‘ an der Steuerbordseite wieder zu ersetzen, das er mühselig mit seinen Fingernägeln abgeknibbelt hatte. Doch dann bemerkte er die Ironie des Schicksals. Seine große Liebe hieß ‚Liv‘. Zwar mit ‚v‘ geschrieben, gesprochen klang das aber gleich: ‚Liv‘ oder ‚Lif‘ - was machte das für einen Unterschied? Sie waren sogar gleich alt. Also entfernte er auch an Backbord das ‚e‘ aus dem ‚Life‘. So hatte er nicht nur ein neues Leben, sondern auch gleich eine neue Geliebte. Offiziell blieb das Schiff aber nach wie vor unter dem alten Namen registriert. Auch das war eine Parallele zu seinem alten Leben, denn seine wie auch immer geartete Beziehung zu Liv war ein jahrelanges Versteckspiel voller Verleumdungen und Notlügen gewesen.
Es muss etwa 6.45 Uhr sein. Gegen 6 Uhr geht Ende Mai an der Südküste der Türkei die Sonne auf. Mittlerweile hatte sich der kugelrunde Heizstrahler über die Berge im Osten von Marmaris gekämpft. „Warum nur hat man mich so früh aus der Zelle geholt, wenn doch niemand mit mir sprechen will?“, fragt Parker sich. Nicht, dass er etwa geschlafen hätte, höchstens war er mal kurz eingedöst. Sein Herz raste unentwegt, der Kopf hämmerte wie die Beats in der Bar-Street. Ihm war schlecht und einmal übergab er sich in das dreckige Waschbecken. Er hatte wieder dieses flaue Gefühl im Magen gehabt, das sich durch seine Eingeweide bis in den Kopf zu fressen schien. Sein Bauch blähte sich, bis er zu platzen drohte, es fühlte sich an, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Apropos Medizin. Wieso hatte er nur seine Pillen an Bord vergessen?
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