Als sich plötzlich die Tür des Verhörraums öffnet, springt Parker auf, aber der Polizist deutet ihm wortlos und mit mürrischem Blick an, wieder Platz zu nehmen und still zu sein. Eine Frau mit Kopftuch geht vorbei an dem Beamten, auf einem Tablett balanciert sie mehrere Gläser mit Tee. Eins davon stellt sie vor Parker auf den Tisch. Dazu gibt es einen trockenen Sesamkringel. Sie legt ihn vorsichtig auf eine weiße Papierserviette. Parker bedankt sich auf Türkisch, die Frau lächelt, nickt höflich und verlässt wieder den Raum. Hinter ihr fällt die Tür ins schwere Schloss. Er ist wieder allein. Allein mit sich und seinen Gedanken.
Panik steigt in ihm auf. Keine rationale, die zu erklären wäre. Keine konkrete. Keine Angst vor dem bevorstehenden Verhör, nicht einmal vor jahrelangem Knast. Es ist einfach dieses beschissene Gefühl von Angst. Und Hilflosigkeit. Parker atmet hektisch, er beginnt zu schwitzen, trotz der Klimaanlage, deren rotes LED-Licht anzeigt, dass die Temperatur im Raum gerade mal vierundzwanzig Grad Celsius beträgt. Für Parker fühlt es sich an wie vierundvierzig. Tropfen bilden sich auf seiner Stirn, die Ärmel des weißen T-Shirts unterhalb der Achseln könnte er auswringen. Er spürt, wie sich unterhalb seiner Brust ein feuchter Film bildet, der immer größer wird, bis dicke Tropfen seinen Körper entlang rinnen. Das schlabbrige Shirt saugt sie auf, dunkle Flecken bilden dort sich wie kleine Seen.
Es ist kein normaler Schweiß. Angstschweiß glänzt in Parkers Gesicht. Er stinkt, beißt in der Nase. Anders als Schweiß beim Sport. Oder in der Sonne. Parkers Schweiß riecht krank. Nach Verderben. So wie damals, als er an Angstzuständen litt. Sein Kopf glüht, aber die Hände sind eiskalt. Er hat das Gefühl umzukippen, kann sich kaum noch auf dem Stuhl halten. Er stemmt seine Beine wie Brückenpfeiler auf den Boden, um Halt zu finden, den Rücken presst er an die Stuhllehne. Aber die Oberschenkel verkrampfen. Parker fühlt seinen Puls, doch am Handgelenk findet er ihn nicht. Weder links, noch rechts.
Hat sein Herz etwa schon aufgehört zu schlagen? Hektisch greift er an seinen Hals, tastet, fühlt, würgt sich fast, bis er ihn endlich findet. Der Puls rast, aber er ist ganz flach, kaum spürbar. In seiner linken Schulter zieht es plötzlich. Der Schmerz strahlt aus in seinen Arm. Ein Herzinfarkt? Oder bildet er sich den Schmerz nur ein? Dann zwackt die Wade, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Das Bein schmerzt und er will kratzen. Aber was, wenn es eine Thrombose ist, wie vor drei Jahren? So hat es sich doch angefühlt? Und saß der Pfropfen nicht an der gleichen Stelle? Könnte er durch das Kratzen den Verschluss lösen, der dann weiterwandert, die Arterie hinauf, die Lunge kollabieren lässt oder seinem Hirn einen Schlag versetzt? Die Zunge! Taub und trocken fühlt sie sich an. Irgendwie angeschwollen. Er versucht sie zu rollen. Erst seitlich wie zu einem Rohr, dann von vorne nach hinten wie ein Rad. In der Apothekenumschau hatte Parker einmal gelesen, bei einem Schlaganfall ginge das nicht mehr. Aber es klappt, Parker kann seine Zunge rollen. Er versucht, sich zu beruhigen: „Alles in Ordnung“, redet er auf sich ein. „Alles okay.“ Er versucht, bewusst zu atmen. Tief und ruhig. Bis in den Bauch. Er weiß, dass es nur eine Panikattacke ist. Aber sein Kopf schreit Alarm, sendet Botenstoffe bis in den entferntesten Teil des Körpers aus. Parker ist voller Adrenalin, er kann nicht mehr stillsitzen. Er windet sich, die Beine zappeln. Erst hört er die Sohlen seiner Flip-Flops auf dem Linoleum quietschen, dann seinen Therapeuten auf ihn einreden. „Panik ist eine ganz normale Reaktion“, hatte der ihm bei der ersten Sitzung erklärt und von Säbelzahntigern und Neandertalern schwadroniert. Angst und Panik hätten bei den Urzeit-Menschen Kräfte freigesetzt, um vor den Feinden aus dem Tierreich abzuhauen. Oder um gegen sie zu kämpfen. Die Neandertaler, die keine Panik empfunden hätten, hätte die Evolution aussortiert, der Tiger gefressen. Panik sei also etwas Gutes, sagte der Therapeut. So ein Schwachsinn, hatte Parker damals gedacht und denkt es jetzt wieder.
Parker war damals ein psychisches Wrack. Was heißt damals, es ist gerade mal anderthalb Jahre her, dass er sich in Behandlung begab. Zuvor hatte er über zwei Jahre die Symptome ignoriert. Schwäche zeigen, Emotionen zulassen, das wollte er nicht. Das konnte er nicht. Nicht vor anderen und schon gar nicht vor sich selbst.
Die erste Panikattacke überfiel ihn auf der Autobahn. Irgendwo auf der A 24 zwischen Hamburg und Berlin, nicht weit hinter einer Baustelle bei Parchim. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er dachte, er muss sterben. Sein ganzer Körper schien von der einen Sekunde zur nächsten aus dem Takt geraten. Er musste anhalten, sofort. Eine Viertelstunde parkte er auf dem Standstreifen mit leuchtenden Warnblinkern, trank einen Liter Wasser zur Beruhigung, dann erst fühlte er sich in der Lage weiterzufahren. Das war die erste Panikattacke. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Sie überfiel ihn zwei Tage später auf dem Rückweg. Von da an wurden Panikattacken zu einem Bestandteil seines Lebens. Aber mit niemandem redete er darüber. Auch nicht, als die Intervalle kürzer und die Angstzustände immer krasser wurden.
Wenn er am nächsten Tag zu einem wichtigen Termin fahren musste, dann konnte er die Nacht zuvor nicht schlafen. Egal, wie müde er war, er fand einfach keine Ruhe. Mit dröhnendem Schädel setzte er sich dann am Morgen hinter das Lenkrad, immer in der Angst, die Panik könnte ihn wieder überkommen. Und weil er sie erwartete, an nichts anderes denken konnte, lauerte sie schon hinter der nächsten Ecke. Nicht selten schmerzte sein Kiefer, wenn er das Ziel endlich erreichte. Bei den Fahrten war er zu angespannt, um zu bemerken, dass er krampfhaft die Zähne aufeinanderpresste. Um sich zu entspannen, massierte er seine Schläfen, ließ Daumen und Zeigefinger am Haaransatz kreisen, so kräftig, dass er sich die Haare abrieb. Das bemerkte er zum ersten Mal, als er nach einer Attacke einen rettenden Rastplatz erreicht hatte. Zunächst wunderte er sich, dass sein schwarzer Rollkragenpullover voller blonder Haare war. Dann erblickte er im Rückspiegel die kahle Stelle an seinem Kopf. An die linke Stirnseite hatte er sich eine Geheimratsecke massiert. Damit es bei dem Meeting, zu dem er fuhr, nicht auffiel, rubbelte er auch die rechte Seite kahl.
Musik entspannte ihn. Aber manchmal musste er auch das Radio ausschalten oder es ganz leise drehen, weil die Stimmen sich anfühlten, als würden sie von innen gegen seine Schädeldecke pochen. Jede Silbe ein Hieb. Er versuchte sich abzulenken, damit seine Gedanken nicht immer nur um die nächste Attacke kreisten. Er beobachtete die Landschaft, suchte Rehe auf Feldern, beobachtete Bussarde und Milane, die über dem Asphalt kreisten auf der Suche nach Aas, hielt Ausschau in anderen Autos nach hübschen Frauen. Oder er las Nummernschilder und versuchte aus den Buchstaben Sätze zu formen. Oft drehten sie sich um Liv.
Er ermahnte sich, Autofahrten doch zu genießen, aber nur selten gelang es ihm. Schon eine gerade Straße, die die Felder rechts und links in zwei Hälften schnitt, machte ihm Angst. Er konnte sich nicht vorstellen, die vor ihm liegenden Kilometer zu bewältigen. Also klemmte er sich mit seinem Wagen hinter einen Lkw oder einen Bus, damit er die bedrohliche Weite vor ihm nicht sehen musste. Aber auch Landstraßen durch Wälder konnten ihn überfordern. Die Bäume standen manchmal bedrohlich nah an der Straße, so empfand er das. Er hatte Angst, seinen Wagen nicht auf der Straße halten zu können. Also schlich er mit 60 Stundenkilometern seinem Ziel entgegen, besonders dann, wenn die Sonne tief stand und die Bäume Schatten auf die Fahrbahn warfen. Dann kam es ihm vor, als führe er über einen ewig langen Barcode. Schatten, Licht, Schatten, Licht, Schatten, Licht. Es machte ihn wahnsinnig.
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