»Du stirbst«, tadelte ihn eine Frau.
Delia! Das war ihre Stimme. Sie hatte sich über ihn gebeugt. Deutlich sah er ihr Gesicht über sich. Die kurzen schwarzen Haare, ihre dunklen Augen und die sonnengebräunte Haut. Er streckte die Hand nach ihr aus, konnte sie aber nicht berühren. Sie zog die Stirn kraus. Ihre Augen wurden noch dunkler und begannen zu funkeln. Sie war wütend auf ihn.
»Steh auf, du verdammter Narr!«, schimpfte sie.
Dilga protestierte. Er wollte nur einen Moment hier liegen, sie ansehen und den Frieden genießen. Aber sie war unnachgiebig. Wie immer! Sie wandte sich von ihm ab, um ihn allein in der Dunkelheit zurück zu lassen. »Delia!«
Dilga öffnete die Augen und starrte auf den dunklen Stein vor seiner Nase. Er lag auf dem Bauch in der Felsnische und war eingeschlafen. Fluchend stemmte er sich hoch. Auf keinen Fall würde er so sterben. Hilflos und allein in der Dunkelheit. Er schwang die Beine über die Kante und rutschte ab. Seine Hände fanden keinen Halt. Hart schlug er auf dem Boden auf. Zum Glück war die Nische nicht so hoch gewesen, wie er beim hinaufklettern gedacht hatte.
Einen Moment blieb er sitzen, den Rücken an den Felsen gelehnt, und sortierte seine Sinne. Sollte er jemals hier herauskommen, dann würden Oleg und seine Tochter für alles bezahlen. Hass und Wut gaben ihm neue Kraft. Mühsam stand er auf und zog das Kurzschwert aus dem Gürtel. Das zweite Ogerschwert hatte er verloren. Dicht an der Wand entlang, ging er weiter. Der Weg führte jetzt deutlich bergauf und nach einiger Zeit wurde es heller. Er blieb stehen und rieb sich die Augen.
Das war kein Trugbild. Er konnte seine Finger sehen, schemenhaft zwar, aber immerhin. Misstrauisch starrte er auf seine Faust, die sich fest um den kurzen Griff der Waffe geschlossen hatte. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. War das wirklich, oder lag er schon wieder schlafend in irgendeiner Ecke? Achselzuckend ging er weiter. Egal ob es ein Traum war oder Wirklichkeit. Er wollte hier raus und wenn das sein letzter Traum war, sollte er wenigstens ein gutes Ende haben.
Das Licht nahm stetig zu und bald konnte er Farben erkennen. Nicht, dass es da viel zu sehen gab. Seine Stiefel und die Hose waren von einem schmutzigen graubraun und das Hemd, das einmal weiß gewesen war, zierten jetzt alle möglichen Flecken. Einige davon aus getrocknetem Blut; Ogerblut und sein eigenes. Unvermittelt führte vor ihm eine Treppe nach oben. Dorthin, woher das Licht kam. Er grinste wild. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er die Stufen hinauf. Er spürte einen kalten Luftzug. Das war frische Luft! Nicht die nach Salz und Metall riechende Luft aus dem Inneren der Berge. Da oben gab es Wind und Licht. Und einen Ausgang. Erst langsam drangen die dünnen Fistelstimmen der Oger zu ihm durch. Im letzten Moment duckte er sich.
Vielleicht ein Dutzend dieser Kreaturen standen im Halbkreis um einen aufgeschichteten Holzstapel herum und sahen einem alten Oger zu, der sich mit zwei Hölzern abmühte ein Feuer zu entzünden. Die Haut des Alten war grau und mit allerlei Tand geschmückt. Dilga sah Knochen, Federn, Metall und eine Gabel, ohne Zweifel von Menschenhand geschaffen.
Das war ein Schamane, ein Rottenführer und Giftmischer. Sie entfernten sich niemals weit von ihren Stammhöhlen. Suchend sah Dilga sich um. Den Familienbau der Rotte konnte er nicht entdecken. Dafür sah er einen Ausgang aus der Höhle; auf der anderen Seite der Gruppe. Das war einfach nicht fair! Er hatte nicht mehr die Kraft, sich einen anderen Weg zu suchen.
Das getrocknete Gras, in dem der Schamane seine Hölzer rieb, begann zu qualmen. Bald würde dort ein großes Feuer lodern. Vier Oger brachten ein abgezogenes Schwein, das an einem Spieß hing. Er musste dort hinaus und zwar jetzt! Dilga starrte sein schartiges Kurzschwert an. Um da durch zu kommen und den Ausgang zu erreichen, brauchte er viel Glück und damit schien es zurzeit bei ihm nicht sehr gut bestellt zu sein. Er schloss die Augen. Vielleicht fand er wenigstens einen schnellen Tod im Kampf.
Das Schwert fest in der Hand sprang er auf und über die letzten Treppenstufen hinauf. Er riss die Waffe hoch über den Kopf. Brüllend rannte er direkt auf das Feuer zu. Echos warfen seine heisere Stimme zurück. Es klang, als ob ihm eine ganze Armee folgte. Die Oger sahen sich erschrocken um. Der alte Schamane richtete sich auf und hob einen knorrigen Stock, an dem ein Schädel baumelte, in die Höhe. Die Flammen in seinem Rücken verliehen ihm ein gespenstisches Aussehen.
Dilga packte das Schwert und stieß es dem nächsten Oger in die Seite. Die Kreatur fiel zu Boden und schrie erbärmlich, während sie mit beiden Händen versuchte, ihre heraus quellenden Gedärme festzuhalten. Erneut hob er sein Schwert und hieb einem weiteren Oger den Kopf ab. Der rollte dem Schamanen vor die Füße. Die vier Träger ließen ihren Spieß mit dem Schwein fallen. Dilga sprang drüber und stieß einen der Träger ins Feuer. Schrill gellten ihre Schmerzens- und Wutschreie durch die Höhle. In seinem Rücken brüllte voller Wut der Schamane.
Dilga rannte um sein Leben. Blasrohrpfeile fielen hinter ihm zu Boden. Er sollte Haken schlagen, um seinen Feinden das Zielen zu erschweren. Aber dazu reichte seine Kraft nicht mehr aus. Blind vor Erschöpfung und Angst rannte er weiter, seine Augen fest auf das Ziel gerichtet. Etwas streifte seinen Arm. Der kurze Pfeil blieb in seinem Ärmel stecken, ohne seine Haut zu verletzen. Er wischte ihn zur Seite. Dann spürte er einen Stich im Oberschenkel. Es brannte. Verzweifelt rannte Dilga weiter. Hinter sich hörte er seine Verfolger. Sie waren ihm dicht auf den Fersen. Um ihn herum prallten weitere Pfeile gegen die Felsen, dann stach ihm unvermittelt die Sonne in die Augen und in seinem Bein explodierten feurige Wellen. Er taumelte und fiel nach vorn in das Licht. Der Berghang hinter dem Ausgang war sehr steil und auf ihm lag Schnee. Dilgas taubes Bein knickte weg und er rutschte aus. Mit rudernden Armen stürzte er vornüber und rollte den steilen Hang hinunter.
Immer schneller rutschte er in einer Wolke aus nassem Schnee abwärts. Die Taubheit aus seinem Bein breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Sie verhinderte, dass er die Prellungen spürte, die der lange Sturz ihm zufügte. Er rollte und rutschte, bis ihm übel wurde. Schließlich endete die rasende Fahrt. Dilga lag mit dem Gesicht im Schnee, aber er fühlte die Kälte nicht. Auch nicht die Feuchtigkeit, die durch seine dünne Kleidung drang. Er fühlte überhaupt nichts mehr.
*
Ihm war schrecklich kalt und er konnte sich nicht bewegen. Dilga wusste nicht, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Das einzige was er fühlte, war der harte Boden und das Brennen an seinem Bein. Er hatte das Bewusstsein verloren, wie lange er schon hier lag, konnte er nicht einmal schätzen.
Jemand berührte ihn. Eine Hand tastete seinen Körper ab. Die Oger! Sie hatten ihn gefunden. Er schluchzte lautlos. Finger legten sich auf seinen Hals, er hörte ein Grunzen und geriet in Panik. Er wollte sich wegrollen, aber es wurde nicht einmal ein Robben daraus, nur ein hilfloses Zucken. Aber das reichte aus, dass die Hand zurückgezogen wurde.
»Der lebt noch«, sagte eine Stimme.
Wie durch dichten Nebel drang sie an sein Ohr. Das war kein Oger. Da sprach ein Mensch.
»Hat sich jedenfalls bewegt«, stellte eine zweite Stimme lakonisch fest.
Dilga versuchte zu sprechen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht.
»Hat er was bei sich?«, fragte eine weitere Stimme.
Sie war deutlich höher als die anderen, die er bisher gehört hatte. Seine Taschen wurden durchsucht. Dann drehte man ihn auf den Rücken. Grobe Hände rissen sein Hemd am Kragen auseinander.
»Nichts«, stellte eine der Stimmen enttäuscht fest.
Dilga drohte das Bewusstsein zu schwinden. Er wehrte sich dagegen.
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